Dunkle Wasser in Florenz - Roman: Dunkle Wasser in Florenz
Grunde seines Herzens nicht viel anders dachte. Der Wissenschaftler lächelte.
»Ich würde Ihnen gerne eine Fabel erzählen …«
»Bitte sehr.« Casini suchte nach seinen Zigaretten. Er konnte sich nichts Besseres wünschen, um sich von den Gedanken abzulenken, die ihn beherrschten. Mit einer Hand fegte Dante den Rauch fort und ahmte dabei ungewollt die segnenden Bewegungen eines Priesters nach.
»Es war einmal eine sehr intelligente Maus, die eines schönen Tages beschloss, eine wichtige Abhandlung zu schreiben: Sie wollte Sitten und Gebräuche der Menschen ganz genau darstellen. Tagsüber kam sie also aus ihrem Loch, wanderte hierhin und dorthin, um das Leben der Menschen heimlich zu beobachten, in der Nacht kehrte sie in ihren Bau zurück und schrieb bei Kerzenschein geduldig nieder, was sie gesehen hatte. Es war eine sehr sensible und aufmerksame Maus. Nichts entging ihr, sie erfasste jedes Detail und konnte auch hinter die äußere Fassade sehen. Nach einem Jahr war das Buch fertig, es umfasste ungefähr tausend Seiten. Durch einen merkwürdigen Zufall landete es in den Händen eines Gelehrten, der es unbedingt übersetzen wollte. Lange Jahre musste er mühsam forschen, ehe er die Mäusesprache entziffern konnte, doch dann fand er den richtigen Schlüssel dazu. Er übersetzte also die Abhandlung und konnte es kaum glauben: Die Maus hatte das Leben der menschlichen Rasse besser beschrieben als jeder Mensch. Nun wollte er unbedingt diese scharfsinnige Maus kennenlernen, die in der Lage war, auch die feinsten Mechanismen, nach denen die menschliche Gesellschaft funktioniert, zu erkennen. Er zog in die weite Welt und suchte überall nach ihr, denn er wollte ihr Pfötchen schütteln und sich vor ihrer Weisheit verneigen. Doch als er schließlich entdeckte, wo die Maus lebte, erfasste ihn unsägliche Trauer. Raten Sie mal, warum?«
»Die Maus hatte sich in einen Menschen verwandelt?«
»Viel einfacher: Die Maus hatte ihr Loch in einem Vernichtungslager«, erklärte Dante majestätisch lächelnd.
»Solche Fabeln müsste man den Kindern erzählen …«
Als Casini am Samstagmorgen ins Büro kam, war seine Stimmung auf dem Tiefpunkt. Er ließ sich auf seinen Stuhl fallen und zündete sich eine Zigarette an, während er seinen Blick über die Gegenstände und Akten auf seinem Schreibtisch gleiten ließ. Es hatte die ganze Nacht durchgeregnet und immer noch nicht aufgehört. Das monotone Rauschen des Wassers war der passende Hintergrund für seinen Gemütszustand. Die Zeit schien stehenzubleiben, und das Warten begann unerträglich zu werden. Giacomo Pellissaris Akte lag vor ihm, mittlerweile kannte er sie auswendig. Worauf hoffte er eigentlich noch? Der Metzger führte ein völlig normales, ja geradezu banales Leben. Er war ein Faschist, mehr nicht. Casini hörte es klopfen, die Tür öffnete sich leicht, und Rinaldi steckte seinen Kopf ins Zimmer.
»Es ist wieder so weit, Dottore«, sagte er leise, und seine Augen blickten düster.
»Was meinst du damit?«
»Commissario Gorghi … Er verhört wieder einen Jungen auf seine Art.«
»Verdammt.« Casini stand seufzend auf, und als er Rinaldi folgte, spürte er, wie es ihn in den Fingern juckte. Langsam gingen sie die Treppe ins Erdgeschoss hinunter.
»Wer ist der Junge?«, fragte Casini.
»Ein Student.«
»Was hat er getan?«
»Commissario Gorghi hat anarchistische Flugblätter bei ihm gefunden.«
»Dieser Unmensch wird noch aus ihm herauszupressen versuchen, dass er höchstpersönlich Jesus Christus gekreuzigt hat.« Casini hasste Gorghi seit ihrer ersten Begegnung und versuchte ihm so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen.
Als sie den Flur erreichten, in dem Gorghi sein Büro hatte, hörten sie schon den jungen Mann stöhnen. Casini bat Rinaldi, im Funkraum zu warten, und betrat das Zimmer, ohne anzuklopfen. Gorghi stand mit erhobener Faust da, bereit, erneut zuzuschlagen. Der Junge hatte eine aufgeplatzte Lippe, seine Brille lag zertreten auf dem Fußboden.
»Casini, ich freue mich, dich zu sehen«, sagte Gorghi mit einem verlegenen Grinsen und ließ die Faust sinken. Der junge Mann sah verängstigt in Casinis zorniges Gesicht. Er fürchtete, dass beide das Verhör jetzt mit vereinten Kräften fortführen würden.
»Was hat dieser Mensch Furchtbares verbrochen?«, fragte Casini so heftig, dass sein Untergebener zusammenzuckte.
»Das ermitteln wir noch«, sagte Gorghi provozierend. Casini verschlug es die Sprache, und er spürte das dringende
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