Dunkle Wasser in Florenz - Roman: Dunkle Wasser in Florenz
Gedanken versunken lief er vor sich hin. Immer mal wieder wehte der Wind in lauen Böen durch die Straße und brachte von den Hügeln im Umland den zarten Geruch von abgestorbenem Laub mit. Er, Casini, würde Giacomos Mörder nie fassen. Der Metzger hatte die Telefonrechnung beim Pilzesammeln oder auf der Jagd verloren. Das war alles. Es war sinnlos, ihn weiter zu beschatten. Casini hatte sich von der Hoffnung mitreißen lassen und sich an einen dummen Fetzen Papier geklammert. Jetzt tappte er wieder völlig im Dunkeln, war eigentlich nie aus ihm herausgetreten. Wenn ihm jetzt nicht irgendein Heiliger unter die Arme griff, würden die Schweine, die den armen Jungen umgebracht hatten, ungeschoren davonkommen. Damit konnte er sich einfach nicht abfinden.
Er lief an seinem Hauseingang vorbei und dann weiter bis zum Borgo San Frediano. Als jemand seinen Namen rief, schaute er auf. Die kräftige Aneris winkte ihm mit einer Riesenpranke zu, während sie in der anderen ein Brötchen hielt, das ein Maurer kaum geschafft hätte. Casini winkte zurück. Er hatte noch nie ein Wort mit der Frau gewechselt, aber sie grüßten einander immer wie alte Freunde.
Er drückte die Glastür von Santo Novaros Laden auf, einem Barbier, der niemals lachte. Im Viertel hatte man ihm deshalb den Spitznamen »Totengräber« verpasst. Er wusste das und war sogar noch stolz darauf. Obwohl ihn noch nie jemand lachen gesehen hatte, funkelte in seinen Augen die herbe Ironie eines Sizilianers. Er war stolz und elegant und sah aus wie eine Miniaturausgabe des Schauspielers Amedeo Nazzarini in den vierziger Jahren.
»Meine Verehrung, Commissario.« Santo war bereits als kleiner Junge mit seinen Eltern nach Florenz gekommen, aber er machte sich immer noch einen Spaß daraus, den Sizilianer zu spielen.
»Ciao, Santo.« Sie schüttelten einander die Hände. Die von Santo war knochig und hart wie Olivenholz. Es waren keine weiteren Kunden im Laden, und so nahm Casini auf dem Drehstuhl Platz. Der Sizilianer breitete ein hellblaues Tuch über seine Kleidung und stopfte es im Kragen fest. Dann nahm er eine spitze Schere in die Hand.
»Ein bisschen kürzen?«
»Aber nicht zu viel abschneiden.«
»Sie wollen doch nicht etwa einer von diesen langhaarigen Hippies werden, Commissario.« Santo begann zu schneiden.
»Ich muss gestehen, dass ich gar nichts dagegen hätte, wenn ich dreißig Jahre jünger wäre.«
»Männer müssen wie Männer aussehen.«
»In früheren Zeiten trugen auch Männer ihr Haar lang«, sagte Casini und sah Santo im Spiegel an. Der brütete eine Weile schweigend über den Worten des Kommissars, während er sein Werk fortsetzte. Nach jedem kleinen Schnitt schnippte er kurz mehrmals leer in die Luft. Es war ein vertrauter Laut, und Casini entspannte sich langsam. Er schaute in den Spiegel und dachte an die dunkelhaarige Verkäuferin. Wenn er bloß dreißig Jahre jünger wäre …
»Ich weiß viele Dinge, die ich gar nicht wissen möchte«, sagte Santo leise mit ernster Miene.
»Was denn?« Casini schauderte, als ob der Sizilianer ihm jeden Augenblick die Namen von Giacomos Mördern nennen würde.
»Haarwirbel«, sagte Santo, während er weiterschnitt.
»Haarwirbel.«
»Genau, Commissario. Das vererbt sich vom Vater auf den Sohn, wie böse Taten.«
»Das musst du mir jetzt erklären, Santo.«
»Es gibt Väter, die sind gar nicht die Väter ihrer Söhne, und Söhne, die nicht die Söhne ihrer Väter sind. Haarwirbel lügen niemals. Ich muss sie nur sehen und weiß Bescheid.«
»Was weißt du?«
»Ich könnte eine ganze Liste von Kindern im Viertel machen, die Kuckuckskinder sind.«
»Meinst du das ernst?«
»Leider ja, auch wenn ich lieber nichts davon wüsste.«
»Sag mal, ist dir jemals ein Kind von mir untergekommen?«, fragte Casini lächelnd, aber er wartete doch gespannt, was der Sizilianer antworten würde.
»Nur keine Sorge, Commissario, ich werde es niemandem verraten«, meinte der Friseur so ernst wie immer.
»Du machst Witze, nicht wahr?«, fragte Casini leicht beunruhigt nach.
»Selbstverständlich, ich werde es natürlich überall im Viertel herumerzählen.«
»Und welchem angeblichen Vater ist das Kind untergeschoben worden?«, fragte Casini.
»Mir …«, sagte Santo und schwang einen blitzenden Säbel hoch durch die Luft. Ehe der auf seinen Schädel niedersausen konnte, erwachte Casini. Der Sizilianer rüttelte ihn an der Schulter.
»Sie schnarchen wie ein Traktor, Commissario.«
»Häh?«
»Legen Sie
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