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Dunkle Wasser

Dunkle Wasser

Titel: Dunkle Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Jane Beaufrand
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mich auf ihre Füße, kralle nach ihr, um sie zurückzuziehen
.
    Doch ich komme zu spät. Der Fluss überschwemmt die Ufer, sein Klagen nun nacktes Wehgeschrei
.
    Verlorn! Verlorn! Verlorn!

12
    Als ich nach vermutlich nur fünf Minuten Schlaf wieder aufwachte, war es noch dunkel. Ein kleines braunhaariges Mädchen beugte sich über mich.
    »Ronnie? Bist du wach?«
    Mein erster Gedanke war: Natürlich lebt sie noch. Das gestern, das war der Albtraum. Dann trieb ich hinauf bis an die Oberfläche meines Bewusstseins und wusste wieder, dass das nicht sein konnte.
    Erschreckt fuhr ich hoch und wich rückwärtskrabbelnd zurück, so weit wie möglich weg von der Erscheinung. Als ich die Bettdecke an mich riss, merkte ich, dass unter meinen Fingernägeln Blut hervorquoll. Ich hatte sie mir in meinem Albtraum wundgekrallt bei dem Versuch, Karen aufzuhalten.
    Die Erscheinung sagte nichts mehr, aber sie verschwand auch nicht. Nach ein paar Minuten, als mein Herz aufgehört hatte zu rasen, streckte ich den Arm aus und knipste die Nachttischlampe an.
    »Gott, Esperanza! Du hast mir einen Riesenschreck eingejagt! Ich dachte, du wärst ein Gespenst.«
    Esperanzas Unterlippe verzog sich und unter ihrem Mund bildete sich ein Grübchen wie ein Komma. Das war eins der Dinge, die sie mit Tomás gemeinsam hatte – die Gesichtsausdrücke der beiden sahen aus wie Satzzeichen. Wegen des Kommas machte ich mir jedoch keine Sorgen, denn es war fast immer da. Esperanza war so sensibel, dass es schon beinah krankhafte Züge annahm. Und deshalb war sie – abgesehen von der flüchtigen äußeren Ähnlichkeit zwischen den beiden Mädchen (braune schulterlange Haare und Babyspeck am Bauch) – in Wahrheit das genaue Gegenteil von Karen. Außerdem war Karen zehn und Esperanza sieben, ein scheinbar kleiner Altersunterschied, solange man außer Acht ließ, dass Karen jede Pflanzen- und Gesteinsart diesseits von Dufur kannte, während Esperanzas einzige Begabung im Daumenlutschen zu bestehen schien. Niemand versuchte, es ihr abzugewöhnen, da alle die Einstellung hatten: warum nicht, wenn es sie tröstet? Sie hat in ihrem Leben schon genug durchgemacht.
    »Was ist denn?«, fragte ich.
    »Ich konnte nicht schlafen.«
    »Und wo ist deine Mom? Oder Tomás?«
    »Die schlafen.«
    »Ach so«, sagte ich. Und auf eine seltsame Art ergab das tatsächlich Sinn. Trotzdem. »Und warum weckst du dann mich?«
    »Weil ich Angst habe«, murmelte sie, nervös um sich blickend.
    »Wovor denn?«
    »La llorona«
, flüsterte sie ehrfürchtig.
    Wie ich vielleicht schon erwähnt habe, beschränkt sich mein Spanisch auf das, was ich von Tomás und seiner Mutter hörte, und im Fall von Tomás waren das hauptsächlich Schimpfwörter.
    Doch als Esperanza
la llorona
sagte, war mir mit einem Mal kalt, als wäre ein eisiger Wind durch die Dachritzen gepfiffen und mir in die Knochen gefahren. Obwohl ich noch nicht einmal wusste, was es war, bekam auch ich Angst.
    »Was ist eine
llorona?
«
    »Der Flussgeist«, sagte sie. »Die weinende Frau, die ihre eigenen Kinder ertränkt hat und die im Wasser wohnt und darauf wartet, dass sie noch mehr Kinder in den Tod locken kann.«
    Verlorn, verlorn, verlorn
… Die weinende Frau. Ein Wassergeist. War sie es gewesen, die ich heute Morgen klagen gehört hatte, noch bevor ich wusste, dass etwas nicht stimmte? Ich holte tief Luft. »Wer hat dir davon erzählt?«
    »Mamá«, sagte sie.
    Das kam mir komisch vor. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Gloria Inez ihrer Tochter absichtlich Angst einjagte. Dafür war sie eine zu gute Mutter.
    »Wirklich.«
    Esperanza wickelte sich nervös eine Haarsträhne um den Finger und mied meinen Blick. »Ich hab gehört, wie sie mit Tomás darüber gesprochen hat. Sie wussten nicht, dass ich lausche. Tomás wollte ihr einreden, dass
la llorona
erfunden ist, aber Mamá hat gesagt, in Mexiko gibt es überall hungrige Geister, warum soll es dann hier anders sein, nur weil es kälter ist.«
    Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen. »Verstehe.«
    Sie sah zu mir auf. »Was glaubst du, ist
la llorona
als Nächstes hinter mir her? Das glaubt Mamá. Sie hat zu Tomás gesagt, er soll aufpassen, dass ich immer in ihrer Nähe bleibe.«
    Ich wusste, was meine Augen und Ohren mir sagten, nämlich dass der Fluss hungrig war und uns alle miteinander verschlingen würde, wenn er könnte, angefangen bei den Wehrlosesten. Aber einem kleinen Kind würde ich das nicht auf die Nase binden, schon gar nicht einem so schreckhaften

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