Dunkle Wasser
stürzte ich ihn womöglich in einen dunklen Abgrund.
»Wie viel Beruhigungsmittel nimmst du zurzeit, Dad?«
Am anderen Ende der Leitung trat Stille ein, Dad machte sich auf das Schlimmste gefasst. »Genug«, sagte er schließlich. Also erzählte ich ihm alles.
Ich erzählte ihm von dem Wackelpudding mit Bier. Von dem Spiegel und den Drogen. Ich sagte ihm auch, dass icheigentlich schon viel früher darauf hätte kommen können, doch dass ich die ganze Zeit dachte, Gretchen hätte bloß eine Allergie und sei durch die frühe Aufsteherei tagsüber immer so gerädert. Und dass ich auch hätte wissen müssen, dass sie meine Sachen geklaut hat, denn wie viele Leute hatten schon Zugang zu meinem Spind und meinem Nachttisch?
Dad hörte sich alles schweigend an. Als ich fertig war, wartete ich mit angehaltenem Atem auf seine Reaktion. Würde er mich anbrüllen? Weinen? Ich hatte ihn gerade mit einem ziemlichen Batzen Zivilisation überschüttet, dabei war er doch mit uns nach Hoodoo gezogen, um gerade dieser Zivilisation zu entkommen.
»Dad?«, hakte ich nach.
»Du hast ganz richtig gehandelt«, sagte er und klang wieder ganz wie der alte, kompetente Dad. In diesem Moment hätte ich am liebsten losgeheult. Nach all dem, was heute Abend passiert war, trieb mir nichts so sehr die Tränen in die Augen wie der Gedanke, dass mein Vater wieder der Alte war und mich unterstützen würde.
Ich lehnte mit dem Rücken am Fenster der Notaufnahme. Langsam rutschte ich daran hinunter, bis ich in einem Matschhaufen am Boden hockte.
»Ronnie? Alles klar?«
»Mir geht es gut, Dad. War nur alles ziemlich heftig.«
»Ich weiß, Schatz«, sagte er. »Halt durch. Wir holen Joanne ab und sind in einer Stunde bei euch.« Joanne war Gretchens Mom.
Ich hatte kein Taschentuch, also wischte ich mir die Nase mit dem Jackenärmel ab und hinterließ eine Schleimspur. Es war eklig, aber zumindest hatte ich mich wieder gefangen.
»Dad?«
»Ja, mein Schatz?«
»Komm schnell. Ich bin müde.«
Ich hörte, wie er am anderen Ende der Leitung atmete. »Ich hab dich lieb, mein Engel«, sagte er und legte auf.
Durchs Fenster sah ich in den Wartesaal. Der Marines-Pfleger kam durch eine Doppeltür und rief etwas, das ich nicht verstand.
Ich ging wieder hinein und trat auf ihn zu. Auf seinem Namensschild stand
Curtis
.
»Du bist doch die Freundin, oder?«, fragte er.
»Vermutlich«, sagte ich.
Er nickte. »Komm mit mir nach hinten, du wurdest schon ausgerufen.«
Ich folgte ihm durch die Doppeltüren einen langen Flur mit Linoleumboden entlang, vorbei an halb abgeschirmten Kabinen. In einer davon erblickte ich Gretchen ausgestreckt auf einem Bett mit Schläuchen in Nase und Armen. Sie hatte die Augen geschlossen und ihre Hände lagen reglos neben ihrem Körper. Um sie herum waren drei Leute in OP-Kleidung emsig bei der Arbeit.
Ich blieb auf der Schwelle stehen. Einer sagte »Blutbild« und »Schwangerschaft« und »HIV«. Sie sahen auf, bemerkten mich und eine Frau in blauem OP-Kittel zog den Vorhang um Gretchens Bett energisch zu.
Wir bogen um die Ecke und gelangten zu einer weiteren Kabine. Dort lag Tomás unter einem weißen Laken, nur mit einem hauchdünnen geblümten Nachthemd bekleidet, das locker um seinen Hals befestigt war.
»Hey, Babe!«, rief er in einem lässigen und für ihn ganz und gar untypisch weichen Tonfall. Er streckte die Hand aus und winkte mich zu sich. Sobald ich sie ergriffen hatte, zog er mich an sich und küsste mich so stürmisch, dass Petunias Hundeschmatzer im Vergleich dazu anmutig und zart wirkten. Und ich ließ es zu, denn es fühlte sich gut an, ihn zu küssen. Es war nicht so wie bei Keith – ich zitterte nicht vor Angst und Aufregung. Nein, dieser Kuss war anders – behaglich und beglückend zugleich. Tomás’ Atem war frisch mit einem leicht zitronigen Geschmack, als hätte er mit eisgekühlten Limonen gegurgelt.
»Mhmm«, machte er.
Ich löste mich von ihm, aber nur ein klein wenig. Sanft wie ein Hundebaby sah er mich unter seinen langen Wimpern an. Irgendetwas hatte seine Züge geglättet, die Satzzeichen waren verschwunden.
»Lecker, lecker Schmerzmittel«, hauchte er.
»Unter anderem«, sagte der Pfleger hinter mir. Er besah sich die Röntgenaufnahmen am Schirm. Gespenstische Rippen, ein Hals und sehr lange Fingerknochen.
»Komm, küss mich noch mal. Du schmeckst nach Bohnendip«, sagte Tomás und zog an meinem Arm.
Ich warf dem Marines-Typ einen Blick zu. »Hat er das bei Ihnen auch
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