Dunkler Engel
beschwerte sich eben gerne. Und die Person, über die sie sich am meisten beschwerte und die sie am meisten liebte, aber am wenigsten verstand, war ihre Tochter.
Rachel liebte ihre Eltern, auch wenn sie nicht verstanden, was sie am Finanzhandel so faszinierte. Rachel hatte ihren MBA (Master of Business) an der Universität von Chicago gemacht, und ihre Eltern hatten
nie
verstanden,
warum
sie
als
Hauptfach
Wirtschaftswissenschaft gewählt hatte. Warum wollte sie an der Börse arbeiten? Warum musste sie ausgerechnet an einem Ort arbeiten, wo dicke, muffige Makler einem Obszönitäten an den Kopf warfen? Warum konnte sie nicht Immobilienmakler in sein, wie Mitzy, die Tochter von Paul und Irma?
Sie verstanden ebenso wenig, dass Rachel noch nicht verheiratet war.
Sie war ein Einzelkind, und der größte Wunsch ihrer Mutter war, Rachel verheiratet und schwanger zu sehen. (Mitzy war verheiratet, hatte zwei süße kleine Mädchen, und das nächste war unterwegs.) Selbstverständlich gab es die unausgesprochene Vereinbarung, dass Rachel ihren Job aufgeben und sesshaft werden würde, wenn sie erst mal einen Ehemann gefunden hätte. Rachel hatte nichts dagegen, zu heiraten und Kinder zu bekommen. Sie war nur im Moment noch nicht so weit, und sie würde sicherlich ein Problem damit haben, ihre Karriere aufzugeben und sich von einem Mann aushalten und damit auch kontrollieren zu lassen. Rachel wollte gerne beides: ihre Karriere, einen Mann und Kinder. Heutzutage war das völlig normal.
Aber sie wollte nichts überstürzen. Sie konzentrierte sich auf ihre Arbeit und darauf, die schnellste, ordentlichste und begehrteste Maklerin auf dem Parkett zu sein.
Einige der Männer an der Börse behaupteten, durch Rachel Duncans Adern würde Eiswasser fließen. Es war beleidigend gemeint, aber Rachel verstand das als ein Kompliment. Jetzt musste sie sich nur noch von ihrem Chef unabhängig machen und genug Geld auftreiben, um eine freie Maklerin zu werden.
Es war okay, für Mr. Freemari zu arbeiten, aber solange sie sich den Firmenregeln und Richtlinien unterordnen musste, konnte Rachel ihr wahres Potenzial nicht hundertprozentig ausschöpfen. Manchmal kamen große Geschäfte, riesige Geschäfte auf sie zu, und Rachel war nicht befugt, sie sich zu schnappen. Das war alles sehr frustrierend.
Sie aß den Dip auf und nahm sich das Telefon. »Hi«, sagte sie, nachdem Zanus abgenommen hatte. »Mein Tag war gut. Wie war deiner?«
Sie sprachen über die Arbeit. Sie hoffte, dass er sie fragen würde, ob sie das Wochenende zusammen verbringen würden, aber er legte auf, ohne sich mit ihr zu verabreden, auch wenn er sehr charmant war und ihr Komplimente machte.
Vielleicht ist es besser so, dachte Rachel und versuchte, ihre Enttäuschung in den Griff zu bekommen. Er war ein Kunde. Sie fragte sich, ob irgendwas Gutes im Fernsehen kam. Nach einem Blick in die Fernsehzeitung entschied sie, dass dem nicht so war. Sie zog ihre Klamotten aus, warf sie in Richtung Wäschekorb und schlüpfte in ihr Nachthemd. Sie hatte verdammt viel dafür ausgegeben, aber sie liebte das Gefühl von Seide auf ihrer Haut.
Als sie im Bett lag, schloss sie die Augen und bereitete sich geistig auf den nächsten Tag vor. In Gedanken ging sie noch einmal die Aufträge durch, die sie unbedingt auszuführen hatte. Die Zahlen flogen ihr noch wie Vögel durch den Kopf, als sie einschlief.
Sie träumte immer noch von Zahlen, als ihr Wecker schellte. Sie hatte geträumt, dass die Zahlen weiße Vögel waren, die von ihr wegflogen, und so sehr sie es auch versuchte, konnte sie keinen von ihnen erwischen. Sie war froh, dass der Wecker schellte und diesem Traum ein Ende setzte.
Rachel ging in Richtung Dusche. Ihre alltägliche Routine bestand darin,
ihre langen
blonden
Haare zu
einem
Zopf
zusammenzubinden, ein wenig Make-up aufzulegen - Abdeckstift für die dunklen Ringe unter ihren Augen, etwas Rouge, einen Hauch von Lidschatten, Lipgloss - und sich in eine Wolke von Annick-Goutal-Parfüm zu hüllen. Das Parfüm sollte keine Männer anziehen, sondern ihr helfen, den Gestank des Börsenparketts auszuhalten, wenn es dort hoch herging. Dann zog sie eine maßgeschneiderte Bluse, ein Jackett, eine passende Hose und Stuart-Weitzmann-Pumps an. Rachel sah sich im Spiegel an.
Sie war groß, blond und schlank. Ihre Augen waren grüngrau, und sie hatte das, was ihr Vater »den Blick« nannte - ein unterkühltes, intensives Starren, das einem das Blut in den Adern gefrieren
Weitere Kostenlose Bücher