Dunkler Fremder
Wahrheit tritt am Ende immer zutage, wenn man ein wenig
Glauben hat.« Er stand wieder auf. »Tut mir leid, daß
ich nicht länger bleiben kann. Laura Faulkners Vater ist gestern
gestorben. Heute vormittag ist die Beerdigung, und sie hat mich
gebeten, den Trauergottesdienst abzuhalten.«
Shane schluckte mühsam. »Wie geht es ihr, Pater?«
»Dieses Ereignis hat sie härter getroffen,
als alles andere, Martin. Erst ihr Bruder und der Skandal, der damit
verbunden war, und jetzt ihr Vater.« Er seufzte auf und ging zur
Tür. »Ich werde ihr sagen, daß ich Sie besucht habe,
Martin. Falls sie zu Ihnen kommen sollte, seien Sie freundlich zu ihr.
Das arme Mädchen ist sehr einsam.«
Nachdem Pater Costello gegangen war, starrte Shane aus
dem Fenster und dachte an Laura Faulkner. Nach einer Weile warf er die
Bettdecke zur Seite und schwang seine Füße auf den Boden.
Als er sich aufrichtete und zu dem Schrank hinüberging, hatte er
das Gefühl, daß er schweben würde, und verspürte
leichtes Ohrensausen.
Seine Kleider hingen ordentlich auf einer Reihe
Bügel in dem Schrank, und so schnell er konnte, kleidete er sich
an. Es dauerte eine ganze Weile, bis er mit den Knöpfen fertig
war, da seine Hände doch stark zitterten, und er entschloß
sich, darauf zu verzichten, sich den Schlips umzubinden.
Schließlich zog er seinen Trenchcoat über und ging zur
Tür.
Der Korridor lag verlassen, und er durchschritt ihn
schnell zur Haupttreppe am anderen Ende. Im Erdgeschoß hielten
sich sehr viele Leute auf, manche davon in Uniform, aber es befanden
sich auch zahlreiche Patienten darunter. Unbeirrt ging er weiter durch
einen Korridor, der zu einem freundlichen, mit Fliesen ausgelegten
Foyer mit einer breiten Glastür führte.
Auf dem überdachten Vorplatz stand ein
Pförtner in blauer Uniform und blickte in den Regen hinaus. Shane
sprach ihn an. »Entschuldigen Sie, ich habe erfahren, daß
ein verstorbener Patient heute morgen beerdigt werden soll – ein
Mr. Faulkner. Ist der Sarg schon fortgebracht worden?«
Der Pförtner wandte sich ihm zu und sah ihn neugierig an. »Vor etwa fünfzehn Minuten, Sir.«
»Wissen Sie vielleicht auch, wo er beerdigt werden wird?«
»Auf dem Augustinus-Friedhof, soviel ich
weiß«, antwortete der Pförtner. Als Shane die Augen
schloß und leicht schwankte, wurde er plötzlich aufmerksam.
»Ist Ihnen nicht wohl, Sir?«
Shane wehrte ab. »Kein Grund zur Sorge. Ich bin
noch nicht lange wieder auf den Beinen, das ist alles.« Schnell
ging er die Stufen hinunter, bevor der Pförtner weiter in ihn
dringen konnte, und winkte aus der wartenden Reihe ein Taxi zu sich
heran.
Als der Wagen bei der Augustinuskirche angekommen war,
bat er den Fahrer, auf ihn zu warten, ging langsam durch das Tor und
den schmalen, von Pappeln gesäumten Weg entlang zum Friedhof.
Als er näher kam, konnte er Pater Costellos
Stimme hören, und dann sah er auch die Trauergemeinde. Es waren
nicht mehr als ein halbes Dutzend Leute, die um das Grab standen, und
die Stimme des Geistlichen klang klar und deutlich zu ihm herüber.
Shane bog von dem Weg ab und blieb hinter einem hohen
Grabstein aus Marmor stehen. Laura stand auf der anderen Seite des
offenen Grabes. Sie trug ein schwarzes, eng anliegendes Kostüm,
und unter ihren Augen waren dunkle Ringe. Der Dobermann saß neben
ihr, und Shane sah, daß sie ihn mit einer Hand am Halsband
festhielt, als ob er der einzige Freund wäre, der ihr auf Erden
geblieben war.
Bei dem dumpfen Poltern, mit dem die ersten nassen Erd
schollen auf den Sargdeckel fielen, zuckte Shane unwillkürlich
zusammen. Ihn schauderte, und er wandte sich ab und ging schnell im
Schutz der aufragenden Grabsteine zum Tor zurück.
Er setzte sich in das Taxi und wartete, und nach einer
Weile kamen Trauergäste durch das Tor. Pater Costello sprach noch
kurz mit Laura Faulkner, hielt sie mit freundlichem Gesicht sanft an
der Hand, und dann stieg sie mit dem Hund in einen Mietwagen und fuhr
davon.
Shane befahl dem Taxifahrer, ihr zu folgen, lehnte
sich in die Polster zurück und zündete sich eine Zigarette
an. Er zitterte leicht am ganzen Körper, und von dem
Zigarettenrauch wurde ihm übel. Er warf die Zigarette aus dem
Seitenfenster hinaus und wischte sich mit dem Handrücken kalten
Schweiß von der Stirn. Er hatte keine Ahnung, was er ihr sagen
würde. Nur eines wußte er gewiß: Er brauchte sie mehr
denn je, mehr als er zuvor in seinem Leben
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