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Dunkler Grund

Dunkler Grund

Titel: Dunkler Grund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Millionen Menschen war. Trotzdem war es eine sehr bedeutende Stadt, das »Athen des Nordens«, berühmt wegen seiner Gelehrsamkeit, vor allem auf den Gebieten der Medizin und der Juristerei.
    Der Zug ratterte und schwankte durch eine Kurve. Als die Luft wieder klar wurde, konnte Hester in der Ferne die dunklen Dächer der Stadt erkennen, über denen auf massivem Fels die gezackte Silhouette der Burg aufragte – und dahinter das blasse Schimmern des Meeres. Wider alle Vernunft durchfuhr sie ein Schauder freudiger Erregung, als stünde ihr ein großes Abenteuer bevor und nicht nur ein Tag in einem fremden Haus, der Auftakt zu einer höchst alltäglichen beruflichen Aufgabe.
    Die Reise war lang und unbequem gewesen, ein Wagen der zweiten Klasse bietet weder Ruhe noch Bewegungsfreiheit. Natürlich hatte sie die ganze Nacht hindurch aufrecht gesessen; sie fühlte sich steif und müde. Sie stand auf, strich ihre Kleider glatt und brachte, so unauffällig wie möglich, ihre Frisur in Ordnung.
    Eingehüllt in wirbelndem Rauch und inmitten des Lärms von rufenden Stimmen, kreischenden Rädern und schlagenden Türen rollte der Zug in den Bahnhof. Sie ergriff ihr einziges Gepäckstück, eine Reisetasche, gerade groß genug, um die Wäsche zum Wechseln und die nötigen Toilettenartikel unterzubringen, und stieg aus.
    Die Luft schlug ihr so kalt ins Gesicht, daß ihr der Atem stockte. Auf dem Bahnsteig herrschte lautes und geschäftiges Treiben, Fahrgäste riefen nach Gepäckträgern, Zeitungsjungen schrien, Karren und Handwagen klapperten. Die Lokomotive spuckte Asche aus, ein verrußter Heizer pfiff ein fröhliches Lied, Rauchschwaden wälzten sich über den Köpfen der Reisenden hinweg, und ein Mann fluchte, weil Rußflocken sich auf seinem sauberen Hemdkragen niedergelassen hatten.
    Hester war in Hochstimmung; mit wenig damenhafter Eile lief sie den Bahnsteig entlang auf die Treppen zu. Eine hochgewachsene Frau in einem steifen schwarzen Kleid, den Kopf von einer Schute bedeckt, sah ihr mißbilligend nach und erklärte ihrem neben ihr gehenden Mann mit lauter Stimme, daß sie die jungen Leute von heute nicht verstehe. Niemand wisse sich mehr angemessen zu benehmen. Die Manieren seien recht schockierend, und jeder trage seine Ansichten ein wenig zu frei zu Markte, ob sie nun richtig seien oder nicht. Und was die jungen Frauen betreffe – die ungehörigsten Ideen, die man sich nur vorstellen könne, würden ihnen durch die Köpfe schwirren.
    »Ja, mein Liebling«, sagte der Mann abwesend und hielt weiter nach einem Träger Ausschau, der ihnen ihr beträchtliches Reisegepäck abnehmen könnte. »Ja, du hast zweifellos recht«, fügte er noch hinzu, als sie Anstalten machte weiterzureden.
    »Alexander, manchmal habe ich das Gefühl, du hörst mir gar nicht zu!« sagte die Frau unwirsch.
    »Aber, mein Liebling, natürlich höre ich dir zu«, antwortete er und drehte ihr den Rücken zu, um einem Gepäckträger zu winken.
    Hester lächelte, als sie die Treppen zum Ausgang hinaufstieg. Nachdem sie an der Sperre ihre Fahrkarte abgegeben hatte, trat sie auf die Straße hinaus. Schnell hatte sie den Wagen ausgemacht, mit dem sie abgeholt werden sollte; der Kutscher war der einzige Mann weit und breit, der sich aufmerksam alle Passanten ansah, und als er eine Frau im schlichten grauen Kostüm mit einer kleinen Reisetasche erblickte, stutzte er ein wenig. Hester überholte eine Frau und sprach den Mann an.
    »Verzeihung, hat Mrs. McIvor Sie geschickt?« fragte sie ihn.
    »Jawohl, Miss, das hat sie. Und Sie sind Miss Latterly, gerade aus London angekommen, um der Dame des Hauses Gesellschaft zu leisten.«
    »Richtig.«
    »Nun denn, ich vermute, Sie haben nichts dagegen einzuwenden, mit mir zu kommen und erst mal ordentlich zu frühstücken. Kann mir kaum vorstellen, daß man in diesen Zügen was zu futtern kriegt. Bei uns ist das anders, das kann ich Ihnen flüstern. Kommen Sie, geben Sie mir die Tasche.«
    Sie wollte schon protestieren, die Tasche sei nicht schwer, da hatte er sie ihr bereits aus der Hand genommen, überquerte den Bahnsteig, half ihr in die Kutsche und schloß die Tür. Die Fahrt war viel zu kurz, sie hätte gerne mehr von der Stadt gesehen. Sie fuhren einfach von der Brücke herunter und beinahe die ganze Princes Street entlang, passierten die feinen Laden und Häuserfronten auf der rechten Seite, auf der linken die grünen Hänge des Parks, das Denkmal von Scott und – dahinter und darüber die Burg. Sie fuhren

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