Dunkler Grund
niemand außer einer kleinen Frau, die Hester auf Mitte Zwanzig schätzte. Sie hatte dichtes, dunkles Haar und einen Teint von so schöner, kräftiger Tönung, als wäre sie gerade von einem belebenden Spaziergang hereingekommen. So etwas war keineswegs in Mode, jedenfalls nicht in London, aber Hester fand es eine angenehme Abwechslung zur vielbewunderten Blässe, an die sie gewöhnt war. Die Frau hatte ein gepflegtes Gesicht; auf den ersten Blick schien es einfach nur hübsch zu sein, doch bei näherer Betrachtung erkannte man eine intelligente, entschlossene Individualität. Vielleicht hatte sie die Dreißig doch schon überschritten.
»Guten Morgen«, sagte Hester zögernd. »Mrs. Farraline?«
Die Frau blickte auf, als wäre sie über die Störung erschrocken, aber dann lächelte sie, und ihr ganzes Verhalten änderte sich.
»Ja. Und wer sind Sie?« Es klang keineswegs streitlustig, eher neugierig, als wäre Hesters Erscheinen eine wundersame und angenehme Überraschung. »Bitte, setzen Sie sich doch.«
»Hester Latterly. Ich bin die Krankenschwester, die Mrs. Farraline nach London begleiten soll.«
»Oh… ich verstehe. Also, nun nehmen Sie doch Platz. Möchten Sie eine Tasse Tee? Oder lieber Schokolade? Etwas Haferkuchen vielleicht? Shortbread?«
»Tee, bitte. Das Shortbread sieht köstlich aus«, nahm Hester die Einladung an und setzte sich auf den Platz gegenüber.
Die Frau schenkte Tee ein und schob Hester die Tasse hin, dann bot sie ihr das Shortbread an. »Meine Schwiegermutter nimmt ihren Tee oben«, sagte sie. »Und die Männer sind natürlich alle zur Arbeit gegangen. Eilish ist noch im Bett. Um diese Zeit ist sie noch nicht aufgestanden.«
»Geht’s ihr… nicht gut?« Hester hatte es kaum ausgesprochen, da bedauerte sie es auch schon. Es stand ihr nicht zu, nach den Gründen zu fragen, wenn ein Mitglied der Familie kurz vor Mittag noch nicht aufgestanden war.
»Gott behüte, nein! Du liebe Güte, ich hab’ mich gar nicht vorgestellt! Wie gedankenlos von mir. Ich bin Deirdra Farraline – Alastairs Frau.« Ein forschender Blick, und sie hatte in Hesters Gesicht gesehen, daß diese bereits wußte, wer Alastair war. »Und dann ist da noch Oonagh«, fuhr sie fort. »Mrs. McIvor, die Ihnen geschrieben hat. Und Kenneth und Eilish – Mrs. Fyffe, auch wenn dieser Name mir an ihr immer noch fremd ist. Und schließlich Griselda, die inzwischen in London lebt.«
»Ich verstehe. Danke.«
Hester trank einen Schluck Tee und biß in ihr Shortbread. Es schmeckte noch besser, als es aussah, und zerging auf der Zunge.
»Um Eilish müssen Sie sich keine Sorgen machen«, fuhr Deirdra im Gesprächston fort. »Sie steht nie zur rechten Zeit auf, aber gesundheitlich fehlt ihr nichts. Man sieht es auf den ersten Blick. Ein reizendes Geschöpf, vielleicht die hübscheste Frau in ganz Edinburgh – aber auch die faulste. Mißverstehen Sie mich nicht, ich hab’ sie schrecklich gern«, fügte sie schnell hinzu. »Aber ihre Schwächen sind nun mal unübersehbar.«
Hester lächelte. »Wenn wir nur die Perfekten lieben würden, wären wir sehr einsam.«
»Da bin ich ganz Ihrer Meinung. Waren Sie schon mal in Edinburgh?«
»Nein. Nein, noch nicht einmal in Schottland.«
»Ach! Haben Sie immer in London gelebt?«
»Nein, ich war eine Zeitlang auf der Krim.«
»Du liebe Güte!« Deirdra zog die Augenbrauen hoch. »Ach ja, natürlich, der Krieg. Richtig, Oonagh hat ja gesagt, daß sie eine von Florence Nightingales Schwestern für Schwiegermama engagieren will. Auch wenn ich es nicht ganz verstehe. Sie braucht doch nur ein bißchen Medizin und keine Sanitäterin der Armee! Sind Sie mit dem Schiff hingefahren? Das muß ja eine Ewigkeit gedauert haben!« Sie zog ein Gesicht und nahm sich noch ein Stück Shortbread. »Wenn wir Menschen doch nur fliegen könnten! Dann müßte man nicht um ganz Afrika herumsegeln, man könnte einfach über Europa und Asien hinwegfliegen.«
»Man muß nicht um Afrika herumsegeln, um zur Krim zu kommen«, erklärte ihr Hester freundlich. »Die Krim liegt am Schwarzen Meer, man segelt durch das Mittelmeer und den Bosporus.«
Mit ihrer kleinen energischen Hand wischte Deirdra diese Belanglosigkeit zur Seite. »Aber um nach Indien und nach China zu kommen, muß man um Afrika herumsegeln. Das ist im Prinzip dasselbe.«
Hester wußte darauf keine passende Antwort, also widmete sie sich wieder ihrem Tee.
»Finden Sie das hier nicht schrecklich… langweilig, nach der Zeit auf der Krim?«
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