Dunkler Grund
direkt Richtung Neustadt, und nach einer kurzen Strecke durch ein paar georgianische Straßen hatten sie Ainslie Place erreicht. Es sah genauso aus wie die Nachbarhäuser auf beiden Seiten: vier Stockwerke hoch, große Fenster, die nach oben hin kleiner wurden, eine perfekt symmetrische Fassade, Proportionen von großer Schönheit und Leichtigkeit, hinter denen man das Auge der schlichten Regency-Periode erkannte.
Sie wurde zum Hintereingang gefahren – sie war schließlich eher eine Bedienstete als ein Gast des Hauses. Im Hof stieg sie aus, und der Kutscher brachte Pferd und Wagen in den Stall, während sie sich der Tür zuwandte, die sich öffnete, noch bevor sie an der Glocke gezogen hatte. Ein Stiefeljunge betrachtete sie mit wachem Blick.
»Ich bin Hester Latterly, die Krankenschwester, die Mrs. Farraline auf ihrer Reise begleiten soll«, stellte sie sich vor.
»Ach ja, Miss, kommen Sie doch herein. Ich sage Mr. McTeer Bescheid.« Ohne auf eine Antwort zu warten führte er sie durch die Küche zu einem Durchgang, wo er beinahe einem hageren Butler in die Arme gelaufen wäre, der Hester mit Leichenbittermiene musterte.
»Sie sind also die Krankenschwester, die gekommen ist, um die Dame des Hauses nach London zu begleiten.« Er sagte es in einem Ton, als wäre London ein Friedhof. »Treten Sie doch näher. Ich nehme an, Mirren bringt Ihr Gepäck herein. Vielleicht möchten Sie einen Happen essen, bevor ich Sie zu Mrs. McIvor bringe.« Er sah sie prüfend an. »Und sich waschen und das Haar frisieren.«
»Danke«, sagte sie ein wenig verlegen und fühlte sich beinahe richtig schmutzig.
»Gut, wenn Sie sich dann in die Küche begeben wollen. Der Koch macht Ihnen ein Frühstück. Wir lassen Sie holen, wenn Mrs. McIvor soweit ist.«
»Kommen Sie«, sagte der Stiefeljunge gutgelaunt und machte auf dem Absatz kehrt, um sie in die Küche zu bringen. »Wie sind diese Eisenbahnzüge, Miss? Ich bin noch nie mit einem gefahren.«
»Mach du dich an deine Arbeit, Tommy«, befahl der Butler unwirsch. »Was gehen dich Eisenbahnzüge an! Hast du dich schon um Mr. Alastairs gute Stiefel gekümmert?«
»Ja, Mr. McTeer, ich hab’ sie alle fertig.«
»Na, ich wird’ schon noch Arbeit für dich finden…«
An einer Ecke des riesigen Küchentisches wurde Hester ein ausgezeichnetes Mahl serviert, dann führte man sie in ein kleines Schlafzimmer, das man für sie vorbereitet hatte, gleich neben dem Kinderzimmer, wo ihre Reisetasche abgestellt worden war. Sie wusch sich das Gesicht und den Hals und brachte ihre Frisur noch einmal in Ordnung.
Sie mußte nicht lange warten, bis nach ihr geschickt wurde. Der düstere McTeer führte sie durch eine grüne Stofftür in eine große Halle mit einem schwarzweißen, im Schachbrettmuster gefliesten Fußboden. An den holzgetäfelten Wänden hingen etwa ein halbes Dutzend Jagdtrophäen, präparierte Tierköpfe, meistens Rotwild. Ihre Aufmerksamkeit wurde jedoch vom lebensgroßen Porträt eines Mannes gefesselt, das ihr direkt gegenüber hing. Es beherrschte den ganzen Raum, nicht nur dank seiner bemerkenswerten Kolorierung, sondern vor allem wegen des Charakters, der in den Gesichtszügen zum Ausdruck kam. Er hatte ein langes, schmales Gesicht mit klaren blauen Augen, eine lange, schmal geschnittene Nase und einen breiten Mund, dessen Linien verschwommen und seltsam unentschlossen wirkten. Das blonde Haar hing ihm in einer Tolle von solch greller Färbung über die Augenbrauen, als wollte es den Blick von der ihn umgebenden Düsternis aus Eichenholz, Goldbronze und den glasigen Blicken der toten Hirsche ablenken und auf sich ziehen.
McTeer führte sie durch die Halle und einen Flur entlang, vorbei an mehreren geschlossenen Türen, bis er vor einer stehenblieb und leise anklopfte, bevor er sie öffnete und auf die Seite trat, um sie vorbeizulassen.
»Miss Latterly, Ma’am, die Krankenschwester aus London!«
»Danke, McTeer. Bitte treten Sie näher, Miss Latterly.« Die Stimme klang sanft und ein wenig gekünstelt, und nur ganz leicht akzentuierte sich in ihr der förmliche, sehr eigene und etwas eintönige Tonfall der Edinburgher Gesellschaft.
Das Zimmer war weitgehend in einem kühlen Mittelblau gehalten, mit nichtssagenden Blümchenmustern an den Wänden und auf dem Teppich. Die großen Fenster sahen auf einen kleinen Garten, das Licht des frühen Morgens gab dem Zimmer eine kühle Atmosphäre, obwohl im Kamin ein Feuer knisterte. Außer einer schlanken Frau, die Ende Dreißig
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