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Dunkler Schlaf: Roman (German Edition)

Dunkler Schlaf: Roman (German Edition)

Titel: Dunkler Schlaf: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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schwellen, als er sagte: »Zum Teufel. Die Leute haben doch keine Ahnung. Ich hasse diese Stadt!«
    Andreas nickte. Es war ja auch eine Drecksstadt. Lebte hier auch nur ein einziger anständiger Mensch? Was wußten die Leute denn, wie schwer alles war, wenn sie in ihren warmen Wohnzimmern saßen, sich amerikanische Soaps ansahen und alle unter zwanzig heruntermachten? Scheiß Dreckspack. Was sagte Roy Batty noch, wenn der Sturm am wildesten tobte? Mein bester und einziger Freund. Und dann, in der Dunkelheit, zwei dünne Stimmen:
    »Du klatschst doch nicht?«
    »Nein.«
    Es war vorüber. Einen Moment lang hatten sie in einen Abgrund gestarrt. Der sich dann wieder geschlossen hatte. Nur Minuten später gingen sie wie früher nebeneinanderher. Zipp wußte jetzt, daß Andreas ihn brauchte. Hatte er seinem Kumpel nicht eben erst den allergrößten Respekt erwiesen? Was konnte er also im Gegenzug verlangen, etwas, das er noch nie erhalten hatte?
    DEN ALLERGRÖSSTEN RESPEKT!
    In ihm sang etwas, ein nagelneues Gefühl. Er wollte sich nicht mehr ducken müssen. Ihre Beziehung mußte wohl oder übel eine neue Qualität annehmen. Andreas war hübscher, intelligenter, beliebter, hatte mehr Geld und bessere Klamotten, aber, zum Henker, er war schwul. Bei diesem Wort kam Zipp folgende Assoziationskette: Risse im Enddarm, Vaseline, Scheiße unter den Fingernägeln. Hatte er das nicht immer geglaubt? Im Grunde war das Leben großartig. Er war normal. Doch dann fiel ihm die Lust ein, die er unter der Berührung von Andreas’ Hand verspürt hatte. Aber zum Henker, er war überwältigt worden, und er war doch in seinem empfänglichsten Alter, kochte vor Leben und Lust! Außerdem hatte niemand sie gesehen. Sie teilten ein Schicksal, ein seltsames Erlebnis, heftig und auch erschreckend, aber nun würden sie etwas anderes machen. Etwas Besseres. Da war er sich sicher. Nein, sicher war er nicht, aber er hoffte. Wie nur ein Mann von achtzehn Jahren hoffen kann.
    Sie kehrten den Toten den Rücken und steuerten wieder die Innenstadt an. Wechselten nicht ein Wort. Sie waren auf dem Weg zu etwas Grausamem, etwas wirklich Entsetzlichem, schlimmer als das, was eben geschehen war. Beide waren vom Weg abgekommen und ins Stolpern geraten, doch jetzt gingen sie direkt auf ihr Ziel zu. Sie schauten Entgegenkommenden düster ins Gesicht, machten Abstecher in Nebenstraßen, bohrten die Hände in die Taschen. Andreas’ Messer baumelte an seiner Hüfte. Sie mußten sich eine Erinnerung an diesen Abend verschaffen, die das andere überschattete. Wenn sie dann später zurückdachten, würden sie dieses andere erwähnen können und zugleich wissen, was wirklich Sache war, daß es eigentlich um diesen verdammten Abend ging, an dem sie zusammen im Gras gelandet waren. Zipp spürte noch die spitzen Hüftknochen an seinen Oberschenkeln. Aber das schluckte er herunter, er wollte weiter. Es ging auf Mitternacht zu. Sie mußten weg aus der Innenstadt und sich eine stillere Gegend suchen. Sie schauten sich um, wobei einer den Blicken des anderen sorgsam auswich; es war zu früh. Morgen vielleicht. Die Nacht würde sie weiterziehen. Sie ließen das Kino links liegen und überquerten die Straße. Kamen an einem Kiosk, einem Optiker und einem Gebrauchtwarenladen vorbei. Die Straßen wurden stiller und leerer. Und dort, wie vom Teufel persönlich geschickt, ging eine einsame Frau.
     
    Sie entdeckten sie gleichzeitig. Eine untersetzte Frau in einem braunen Mantel. Ihre Schuhe hatten hohe Absätze, woran sie zweifellos nicht gewöhnt war. Wortlos beschleunigten sie ihren Schritt. Gingen im Takt, waren wie ein einziger hellwacher Organismus auf der Jagd. Sie steckten die Köpfe zusammen wie zu einem wichtigen Gespräch. Früher oder später würde die Frau sich umdrehen und sie entdecken. Sie wußten nicht so recht, was sie mit ihr vorhatten. Sie war einfach im passenden Moment aufgetaucht, ein spannendes Spielzeug für zwei große, unberechenbare Kinder. Etwas an der ängstlichen Gestalt verriet, daß die Frau ganz allein war, daß sie von niemandem erwartet wurde. Eine Frau von beinahe sechzig, das nahmen sie wenigstens an, die mitten in der Nacht durch die Straßen ging, die nicht von Mann oder Sohn erwartet wurde. Natürlich war sie allein. Und da sie zu Fuß unterwegs war, wohnte sie sicher in der Nähe. Vielleicht hatte sie auch nicht gewagt, sich in die Warteschlange am Taxistand einzureihen. Es waren schon Leute in Warteschlangen umgebracht worden, sicher las

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