Dunkler Schlaf: Roman (German Edition)
Knie in der Uniformhose.
»Aber irgend etwas muß ihn doch interessieren?« hakte Skarre in einem schwachen Versuch zu trösten nach.
»Er sieht sich oft Videos an. Ich glaube sogar, immer wieder denselben Film. Irgendeine Zukunftsvision. Ist das nicht ziemlich krankhaft?«
»Nein«, Skarre lächelte. »Haben Sie nie von dem Mann gehört, der sich jeden Samstag in London das Musical ›Cats‹ ansieht, und das schon seit acht Jahren?«
Winther lächelte schräg. »Dann muß ich Ihnen wohl glauben. Ansonsten interessiert er sich ein wenig für Musik. Er spielt oder singt natürlich nicht, er hört nur zu. Keine Live-Musik. Konserve, Hi-Fi. Stereoanlage. Hier ein bißchen mehr Baß, da ein paar Höhen weniger. Membranen. Kabel. Diese Dinge. Vielleicht geht es ihm nicht einmal um die Musik an sich.«
»Klang«, meinte Skarre. »Er interessiert sich für den Klang?«
»Kann man sich dafür interessieren?«
»Natürlich. Das ist eine Wissenschaft.«
»Aber es ist keine Leidenschaft«, sagte Winther. »Nur Interesse. Er arbeitet und verdient, aber er hat nie Geld. Er teilt sein Gehalt mit Zipp. Warum in aller Welt macht er das?«
»Weil er ein guter Kumpel ist?«
Winther blickte ihn überrascht an.
»Woran denken Sie, wenn Sie meinen, daß er vielleicht in Schwierigkeiten geraten ist?«
Winther schloß die Augen. »Ach, was meine ich? Daß das, was in ihm auf der Lauer gelegen hat, endlich explodiert sein könnte.« Er lächelte schwach über diese dramatische Darstellung.
»War er Ihres Wissens je in kriminelle Handlungen verwickelt?«
»Ich habe schon so eine Ahnung, daß sie was versucht haben, er und Zipp.«
»Woher kommt diese Ahnung?«
»Ich habe diese Ahnung, weil man so etwas bei den eigenen Kindern eben ahnt. Ich habe es auch seiner Mutter gesagt, aber die will es nicht hören. Sie verlangt Beweise.«
»Das tun wir auch.« Skarre lächelte. Er hatte mit vielem gerechnet und sich auf allerlei vorbereitet. Aber nicht darauf. »Aber«, sagte er, »hier ist die Rede von einem gutaussehenden, jungen, ordentlichen Mann, der morgens aufsteht und zur Arbeit geht und der seine Freizeit mit einem guten Freund verbringt. Der obendrein noch nie straffällig geworden ist, denn ich muß zugeben, daß wir das sofort überprüft haben. Da ist es doch klar, daß das Problem nicht leicht zu erkennen ist?«
»Ich werde Ihnen etwas sagen.« Winther sprang wieder auf. »Sie finden das vielleicht nicht weiter seltsam. Aber Sie haben keine Kinder. Verzeihen Sie, daß ich das gegen Sie verwende, aber das läßt sich nicht vermeiden. Kinder katapultieren uns in eine andere Welt, und das ist jetzt wirklich nicht übertrieben. Sie haben keine, also leben Sie in einer anderen Wirklichkeit als ich.«
»Wenn Sie meinen«, sagte Skarre leise.
»Ich habe damals nicht weiter darüber nachgedacht, aber jetzt geht es mir nicht mehr aus dem Kopf. Wenn Andreas zum Arzt oder zum Zahnarzt mußte. Wegen einer Impfung oder weil ein Zahn versorgt werden mußte, wie das bei Kindern eben vorkommt. Wir haben immer mit Geschrei gerechnet, verstehen Sie? Damit, daß er Angst haben würde. Heulen und protestieren. Oder zumindest ein wenig nervös werden. Aber das ist nie passiert. Er war gleichgültig. Er sagte na gut, und wir gingen los. Lammfromm saß er da, während der Zahnarzt bohrte und der Arzt mit der Spritze kam. Ohne einen Mucks. Und ich war stolz auf ihn. Fand ihn tapfer. Aber wenn ich jetzt daran zurückdenke, finde ich das – unnormal.«
Du hast nicht den Sohn bekommen, den du dir gewünscht hattest, dachte Skarre. Den bekommt niemand. Mein eigener Vater auch nicht. Er mußte an den schicksalhaften Tag denken, an dem er zu seinem Vater gegangen war, an dem er dreimal an die schwere Arbeitszimmertür geklopft hatte. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und sagte mit seiner ruhigsten Stimme, daß er nicht Theologie studieren, sondern sich an der Polizeihochschule bewerben wolle. Und sicher aufgenommen werden würde bei seinen guten Noten und seiner ausgezeichneten körperlichen Verfassung. Und dann machte er sich für das bereit, was kommen mußte, stand gewissermaßen in kugelsicherer Weste da. Es folgte eine Metzelei. Zuerst wurde er vom schwarzen Blick seines Vaters aufgespießt. Danach zerschnitt dessen Stimme seine Brust wie ein Messer, und zwei Minuten darauf war er gehäutet. Geschunden. Die Verzweiflung seines Vaters ergoß sich wie kochendes Wasser über seinen hautlosen Leib. Der Vater machte ihm keine
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