Dunkler Schlaf: Roman (German Edition)
Sie denn gar keine Ahnung?« Er machte sich an seinen Jackenknöpfen zu schaffen, drehte und drehte daran herum, bis sie jede Sekunde durch das Zimmer zu fliegen drohten.
»Nein. Leider nicht. Aber wir haben keinen Grund zu der Annahme, daß ihm etwas zugestoßen ist. Ab und zu brauchen wir eine Pause. Ein wenig Zeit für uns selbst. Ohne daß wir uns verpflichtet fühlen, das aller Welt zu erklären. Das kommt immer wieder vor, und Andreas ist erwachsen. Aber seine Mutter macht sich Sorgen. Und unsere Aufgabe ist es, in solchen Fällen zur Verfügung zu stehen.«
Was für eine Rede, dachte Skarre und holte Atem.
»ZweiTage«,sagteWintherlangsam.»WaszumTeufelhaben sie nur angestellt?«
»Sie? Meinen Sie Zipp?«
Winther nickte. »Wen denn sonst?«
»Darf ich Sie daran erinnern, daß Zipp zu Hause ist? Und nichts weiß?«
Winther ließ einen Hustenanfall und ein schnaubendes Lachen hören. »Erzählen Sie keine Märchen. Die sind doch immer zusammen.«
»Ja«, räumte Skarre ein, »sie waren auch am ersten September zusammen, aber sie haben sich gegen Mitternacht getrennt, und seither ist Andreas nicht mehr gesehen worden.«
Winther versuchte sich zu entspannen.
»Er ist bestimmt zu weit gegangen. Darauf habe ich im Grunde gewartet.«
»Wie meinen Sie das?« Skarre spitzte die Ohren.
»Weil…« Winther starrte zu Boden. »Weil mit Andreas etwas nicht stimmt. Irgend etwas. Ich verstehe das nicht. Er will einfach nichts.« Er machte ein paar Schritte durch das Zimmer. »Das ist schwer zu erklären. Sie haben keine Kinder?« Er starrte in Skarres junges Gesicht.
»Nein. Wie Sie sehen, bin ich noch ein Rotzbengel«, sagte der lächelnd, was Winther ein breites und noch dazu recht freundliches Grinsen entlockte.
»Sie haben mit seiner Mutter gesprochen. Na, dann wissen Sie sicher alles.«
»Sie macht sich große Sorgen«, sagte Skarre loyal.
»Und ist völlig überrascht. Das sage ich ja schon die ganze Zeit. Er ist ein seltsamer Junge. Ich hoffe wirklich, daß er nicht an Drogen geraten ist. Saufen ginge ja noch. Sicher säuft er. Haben Sie schon in den Krankenhäusern nachgefragt?«
»Das tun wir immer als allererstes. Er ist ganz einfach spurlos verschwunden. Wir gehen natürlich davon aus, daß er jeden Moment wieder auftauchen kann. Aber der Ordnung halber müssen wir mit allen sprechen. Sie sagen, er sei anders? Wie meinen Sie das?«
Winther konzentrierte sich. »Na ja, wie meine ich das – es hatte so gut angefangen. Wir bekamen einen feinen, gesunden Jungen, der alles hatte, was ein Junge braucht. Alle Möglichkeiten. Und dann wuchs er heran wie die meisten Jungen. Er war nie krank oder ungezogen oder schwierig. In der Schule kam er gut zurecht, wenn er auch kein Genie war. Aber er hat keinerlei Pläne oder Wünsche für später. Er begeistert sich für nichts. Begeistert sich für nichts«, murmelte er und schien über seine eigenen Worte zu staunen. »Er hat sich nie für Autos oder Motorräder oder anderes interessiert, was für Jungen sonst wichtig ist. Er ist absolut zufrieden, wenn er bei Zipp herumsitzen kann. Andreas hat einfach keine Interessen. Und nichts beeindruckt ihn.«
Er rieb sich mit einer rauhen Hand über die hagere Wange. »Und wissen Sie was?« Er starrte Skarre an. »Das macht mir angst. Was soll aus ihm werden?«
Skarre hatte noch nie gehört, daß jemand sein eigenes Kind auf eine solche Weise bloßgestellt hätte. Und Winther tat das nicht aus Bosheit. Er war ganz einfach mit etwas konfrontiert, das ihm unbegreiflich war.
»Er kommt mir die ganze Zeit vor wie ein Schlafwandler. Und trotzdem habe ich das Gefühl, daß in ihm etwas auf der Lauer liegt. Oder vielleicht hoffe ich das auch nur.«
Sie schwiegen lange, während Skarre versuchte, Andreas in irgendeine Schublade einzusortieren. Er fand keine.
»Hängen Sie sehr aneinander, Andreas und Sie?«
Winther ging zum Fenster. »Er hängt an niemandem.«
»Was ist mit Zipp?«
»Es hat mich überrascht, daß er sich Zipp ausgesucht hat. Andreas ist ihm dermaßen überlegen. Zipp trottet immer hinter ihm her. Ich frage mich, ob er ihn vielleicht zu etwas braucht.«
Skarre machte sich eine Notiz.
»Ich kenne ihn nicht«, sagte Winther. »Er ist mein Sohn, aber ich kenne ihn nicht. Manchmal denke ich, daß man einfach nichts kennen kann.«
Dazu senkte er den Blick, als schäme er sich. Und setzte sich endlich. Stützte das Kinn in die Hände und richtete seinen Blick auf etwas Unbestimmtes, vielleicht auf Skarres
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