Dunkler Schlaf: Roman (German Edition)
ein.
Zwei Stunden später wurde er geweckt. Seine Mutter rief die Treppe herunter: »Telefon! Polizei! Du sollst auf die Wache kommen!«
Er zitterte dermaßen, daß er beide Hände brauchte, um einen Fünfer in die Parkuhr schieben zu können. Es stand in »Aftenposten«, verdammt. Die Oma hatte recht. Konnte das als fahrlässige Tötung betrachtet werden? Die Mutter hatte doch die Bremse verfehlt. O Scheiße. Er spürte den Boden unter seinen Füßen schaukeln, hatte das Gefühl, durch ein Moor zu stapfen. Schweißtropfen liefen über seine Schläfen, und er hatte keine Kontrolle über seine Augen. Sie verweigerten sich, wie zwei Glaskugeln, und sagten schuldig, schuldig, oh, ganz teuflisch schuldig. Er schluchzte auf, während er mit dem verdammten Automaten kämpfte, diesem Scheißgeldschlucker, dieser verdammten Welt, in die er geschleudert worden war. Hatte er darum gebeten? Hatte sich jemand über sein Auftauchen gefreut? Kam es überhaupt vor, daß Menschen einander gern hatten? Er straffte die Schultern und dachte: Reiß dich zusammen, zum Henker. Die wollen doch bloß über Andreas reden.
Während er auf den Haupteingang zulief, wiederholte er in Gedanken immer wieder den einen Satz: Ich weiß es nicht mehr, ich weiß es nicht mehr. Und wenn sie durchschauten, daß er log oder Dinge verschwieg, dann mußten sie das erst mal beweisen. Er betrat das Foyer und meldete sich an der Rezeption. Ein Mann in Zivil kam ihm entgegen. Nicht der junge Typ mit den Locken. Dieser war schlimmer. Er machte sich gerade, wollte sich der Situation stellen, mußte aber zugeben, daß der andere ihn um mehr als Kopfhöhe überragte. Ein plötzliches Gefühl, ein grauenhafter Gedanke tauchte in ihm auf: Diesen Mann an der Nase herumzuführen würde unmöglich sein. Die freundliche Aura, die ihn umgab, war nur ein dünner Firnis. Sie konnte keinen Moment verhehlen, woraus der Mann wirklich bestand. Zipp dachte an Eisen und Stahl, an geöltes Holz, und am Ende dachte er an Bleikristall. Und dann schaute er in die grauen Augen. Er spürte eine Hand auf der Schulter. Sie dirigierte ihn in den Fahrstuhl, in eine Ecke.
»Konrad Sejer.«
Die Stimme kam von tief unten. Das war zweifellos einer der Chefs. Aber warum? Das Büro überraschte ihn. Es sah aus wie ein ganz normales Arbeitszimmer, mit Kinderzeichnungen, Fotos, Glückwunschkarten. Ein bequemer Sessel. Ausblick auf den Fluß. Er sah das Rundfahrtboot vorübergleiten, auf einer seiner letzten Touren.
»Zipp«, sagte Sejer, »ich lasse einen Kaffee kommen. Du trinkst doch Kaffee?«
»Himmel, ja.«
Das war kein guter Anfang. Seine Stimme zitterte. Ich weiß es nicht mehr, ich weiß es nicht mehr. Der Mann verschwand. Zipp überlegte sich, welche Konsequenzen es wohl haben würde, wenn er log. Hier ging es doch bloß um ein Gespräch? Er dachte an die Worte seiner Mutter: Ich kenne dich. Etwas an diesem Mann gab ihm ein ähnliches Gefühl. Er mußte dafür sorgen, daß der freundliche Tonfall erhalten blieb. Solange dieser freundliche Tonfall herrschte, war er in Sicherheit. Sejer brachte eine Kanne und zwei Styroporbecher.
»Nett, daß du gekommen bist«, sagte er. Als ob Zipp eine Wahl gehabt hätte. Der graue Mann spielte ein Spiel. Auf einmal wirkte er unvorstellbar gefährlich. Mißmut senkte sich über Zipp. Die dumpfe Furcht, daß er dieses Büro nicht heil verlassen würde.
»Ja. Aber ich begreife nicht so ganz, was ich hier soll«, stammelte er. »Ich hab doch schon alles erzählt.«
Ihm wurde ein kurzer Blick zuteil, wie ein Windstoß, der seine Augen traf.
»Jetzt ist die Sache ernster«, sagte Sejer kurz. »Drei Tage sind etwas ganz anderes als ein Tag.«
Zipp entschied sich für ein stummes Nicken.
»Ich hoffe um deinetwillen, daß wir Andreas finden«, fuhr Sejer fort. Er betrachtete den glühendheißen Kaffeestrahl, der sich in den weißen Becher ergoß.
Um deinetwillen? Was zum Teufel sollte das denn heißen? Fast hätte er genau diese Frage gestellt: Was zum Teufel soll das denn heißen? Lag in dieser Frage eine Anspielung? Hieß das, wenn sie Andreas nicht fanden, dann…
»Er ist doch dein bester Kumpel?«
»Ja, klar.« Zipp nickte eifrig. Jetzt schien es gegen ihn verwendet zu werden, daß sie Freunde waren, daß Andreas der Überlegene war. Ruhig sitzen, beschwor er sich selbst, einfach die Fragen beantworten!
»Ich will ehrlich sein«, sagte Sejer. »Ich bin nämlich ein altmodischer Mann.«
Und dann lächelte er ein gewinnendes Lächeln,
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