Dunkler Schnee (German Edition)
von zu wenig Schlaf und zu vielen Sorgen, als sie pünktlich ihren Dienst antrat.
„Was ist denn mit dir passiert? Du siehst aus wie eine Trauerweide!“, wurde sie von ihrer Kollegin Elke begrüßt.
„Danke, das ist genau das, was ich hören will“, antwortete sie beleidigt und dachte noch: Schnepfe! Ich weiß selber, wie scheiße ich aussehe.
Sie besah sich ihren Einsatzplan und stöhnte innerlich; keine Absagen, voller Plan, keine Zeit zum Luftholen. Ist vielleicht ganz gut so, urteilte sie dann, bereitete sich auf den ersten Patienten vor und merkte mit dem routinierten Handeln, dass ihr die Arbeit gut tun würde.
Physiotherapeutin war ihr Traumberuf. Sie hatte die Ausbildung durchgesetzt, obwohl sie mit ihren Abiturnoten auch locker zum Medizinstudium zugelassen worden wäre. Ihre Eltern hätten sie gerne im Arztkittel gesehen. Dass sie „nur“ Therapeutin mit einem bescheidenen Gehalt geworden war, hatten sie ihr lange übel genommen. Immerhin rettete der Gedanke an eine eigene Praxis über mehrere Jahre ihre Tochter-Eltern-Beziehung. Doch die Ambitionen dafür waren nicht groß; Marisa fühlte sich als Angestellte zu wohl. Die Bereitschaft zur Übernahme von einer Menge Verantwortung, die zwangsweise mit der Selbstständigkeit einhergehen würde, und die Ausdauer, die sie für Durststrecken bräuchte, waren bei ihr nur marginal vorhanden. Sie sah oft genug auf Georgs Stirn die Sorgenfalten, besonders wenn der Steuerprüfer durchs Haus geisterte, oder spürte dessen Nervosität, wenn die Patienten ausblieben. Es war ein hartes Geschäft, das Ellenbogen und einen starken Willen erforderte. Man war nicht länger Wohltäter für die Patienten, sondern wurde mehr und mehr Geschäftsmann oder -frau, wenn man sich darauf einließ. Typen wie Georg lag das Business; sich selber sah Marisa nicht in dieser Rolle.
Sie versah an jenem Montag ihren Dienst deutlich unterkühlter als üblich, was auch den Patienten auffiel. Ihre übliche Freundlichkeit blieb auf der Strecke, sie merkte es selber, aber die Grenzen, innerhalb derer sie so agieren konnte, was man als „normal“ bezeichnet hätte, waren eng. Sie wurde von Stamm-Patienten mehrfach kritisch angesprochen: „Frau Demmer, geht’s Ihnen nicht gut heute?“ oder „Marisa, Sie sind so einsilbig, sind Sie vielleicht erkältet? Dabei heiraten Sie doch bald, wie ich gehört habe?“
Marisa versuchte höflich, die Gespräche von ihrer Person weg hin zu den Problemen der Kranken zu wenden, was ihr auch gelang. Nach der Hälfte des Vormittages fühlte sie sich durch diese Anstrengung und die Nachwirkungen der letzten Nacht wie gerädert. Dazu kam, dass sie auf dem Einsatzplan gesehen hatte, dass Laurens krankgemeldet war. Er hatte bei ihr nicht mehr angerufen. Nun gut, dann brauchte sie sich nicht zu verstellen. Was auf der einen Seite den Tag leichter zu werden versprach, füllte sie auf der anderen Seite mit einer Empörung ungekannten Ausmaßes. War sie denn nur Dreck? Konnte man einfach so mit ihr umspringen, als wäre sie völlig würdelos?
Als es auf zwölf Uhr mittags zuging, rief Georg sie in sein Büro.
„Du siehst schrecklich aus – ich möchte, dass du nach Hause gehst.“ Er blickte nur kurz auf, fixierte seinen Blick dann wieder auf den Computermonitor und rief, ohne eine Antwort Marisas abzuwarten, seine Buchhalterin herein.
Marisa setzte zu einem Widerwort an, aber Georg bedachte sie nur noch mit einem kurzen Seitenblick und der Aufforderung: „Schlaf dich aus.“ Sogleich wandte er sich der anderen Mitarbeiterin zu und ordnete Verschiedenes an.
Sie akzeptierte ihren Zwangsurlaub nach einer Sekunde der Auflehnung und dachte, dass es sowieso Zeit sei, die Angelegenheit zu klären. Sie telefonierte von der Praxis aus mit ihrem Vater und kündigte ihren Besuch in seiner Kanzlei an.
Im Hinausgehen sah Marisa, dass man ihre Patienten schon auf die anderen Kollegen verteilt hatte. Sauber, dachte sie, alles durchgeplant – ihr könnt mich doch alle mal!
„Na dann, schlaf dich mal aus“, sagte Elke zum Abschied und nickte ihr aufmunternd zu. „Hochzeitsvorbereitungen können ganz schön an den Nerven zerren.“
„Hast du `ne Ahnung“, brummte Marisa.
„Was soll der Quatsch eigentlich?“, rief ihr Vater, als sie in seinem Büro eingetroffen war. „Wir wissen, dass Laurens der Erpresser ist, aber du erwartest, dass ich dir trotzdem das Geld gebe?“
Marisa saß zusammengesunken in einem der tiefen Ledersessel, die vor dem Schreibtisch
Weitere Kostenlose Bücher