Dunkler Schnee (German Edition)
blickte auf den Tisch und das leere Weinglas, dann sah sie den Brief, und alles fiel ihr wieder ein. Laurens, Volker, die Erpressung, ihre Eltern. „Scheiße, verdammte!“, murmelte sie, wiederholte die Wörter und setzte sich wieder auf die Couch. Bedächtig ergriff sie den Brief und öffnete ihn. Bevor sie den Inhalt ansah, überlegte sie, dass Laurens den Brief kurz vor seinem Anruf ins Treppenhaus gebracht haben musste. „So ein verlogener, stinkender Bastard!“
In fünf Tagen will ich 150.000 Euro auf folgendes Nummernkonto überwiesen haben,
lautete die knappe Anweisung. Die Nummer gehörte zu einem Konto bei einer Schweizer Bank.
Darunter stand in kleineren Lettern:
Solltest du nicht mitmachen, wird Laurens von deiner Affäre erfahren. Und Laurens wird dann sehr böse werden!
„Wie originell“, murmelte Marisa und bemerkte ein zweites Papier im Briefumschlag. Es war ein Zeitungsartikel, der ein Datum von vor fünf Jahren aufwies. Das Bild von einer Frau, deren Augen mit einem schwarzen Balken unkenntlich gemacht waren, löste bei Marisa Übelkeit aus. Trotz des Balkens sah man schwere Verletzungen im Gesicht der Frau. Der Inhalt des Artikels handelte von dem Übergriff des Verlobten, der seine Freundin beim Fremdgehen erwischt hatte. Beide, die Verlobte wie auch der Liebhaber, hatten ins Krankenhaus eingeliefert werden müssen. Zum Zeitpunkt der Berichterstattung schwebten sie noch in Lebensgefahr.
Marisa starrte auf das Bild, versuchte aus dem Artikel einen deutlichen Hinweis auf Laurens zu finden, doch außer dem Ortsnamen Gaggenau wurde nichts genannt, was eindeutig war. Sie fühlte sich schwach, zu schwach um zu heulen, zu schwach, um die Eltern anzurufen, zu schwach für alles.
Sie befand sich gerade in einem dunklen Sog, einem Strudel, der ihr Schwindel und Übelkeit brachte. Mit weit aufgerissenen Augen suchte sie nach einem Ausgang aus dem Wirbel, fühlte Kälte und Verzweiflung; es bot sich keine Lösung an, sie fand nichts, was ihr helfen konnte, nur Tränen, die ein wenig Licht brachten. Gerade als sich der Tränenstrom zu einem Wasserfall verdichten wollte, merkte sie, dass das Licht zunahm und ihren Namen wisperte: „Marisa!“
Dann packte sie das Licht an der Schulter. „Marisa! Wach auf!“
Marisa blinzelte, die Deckenlampe brannte. Sie schloss die Augen erneut, wollte sich dem Sog hingeben, denn sie würde sowieso niemals genug Kraft haben, sich dagegenzustemmen, also konnte sie es gleich sein lassen. Doch irgendetwas missgönnte ihr die Leichtigkeit des Aufgebens und schüttelte sie. „Marisa!“
Mit Mühe öffnete sie die Augen, sah Glas und Flasche auf dem Tisch stehen, alles unverändert. Wozu die Panik?
„Marisa! Jetzt reicht’s!“ Und etwas Kaltes, Nasses legte sich auf ihr Gesicht, raubte ihr den Atem. „Was?“, fuhr sie erschreckt auf. Ihre Mutter hatte sich neben sie auf die Couch gesetzt und ihr einen nassen Waschlappen auf die Stirn gelegt. „Marisa! Wach auf! Warum bist du nicht ans Telefon gegangen?“ Die Stimme klang drängend und verängstigt und wütend.
„Was?“ Marisa brauchte ein paar Sekunden, um neben dem Tonfall auch den Inhalt der Frage zu verstehen, überhaupt zu verstehen, warum ihre Eltern hier waren. Claus stand vor dem Tisch und las. Was las er? Und wieso sah er schon wieder so wütend aus?
„Oh mein Gott, der Brief!“, fiel es ihr wieder ein. Ihr Vater stand mit dem Brief in der Hand mitten im Wohnzimmer. „Du wolltest uns sofort informieren!“, polterte er los. Dann nahm er die fast leere Flasche hoch. „Hast du die etwa alleine getrunken?“
Marisa nickte und kam mühsam zum Sitzen. „Es tut mir leid“, sagte sie und setzte einen zerknirschten Gesichtsausdruck auf, was ihr nicht schwerfiel. Die Übelkeit aus dem Traum spürte sie auch real. „Wie spät ist es?“
„Es ist zwei Uhr in der Nacht, Liebes, und wir haben uns große Sorgen gemacht.“
„Entschuldigt bitte, aber die Sache mit der Erpressung macht mich ganz schön fertig.“
„Uns auch.“ Claus hatte sich gesetzt und las den Brief wieder und wieder. „Schweizer Nummernkonto, soso. Ganz schön clever. Als würde er es nicht das erste Mal machen.“
„Habt ihr auch den Artikel gesehen?“, fragte Marisa und ließ ihren Blick schweifen, denn ihr Vater hatte nur das Schreiben in der Hand. Unter der Couch fand sie den Zeitungsausschnitt und hielt ihn wortlos in die Höhe.
19. Georg
Am nächsten Morgen zeugten unübersehbare Schatten unter Marisas Augen
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