Dunkler Schnee (German Edition)
einzugehen. Ohne Risiko auf Enttäuschung gab es nun mal nichts Schönes. Um das nicht erklärbare Bedürfnis nach Vereinigung auf einem höheren oder anderen Level als dem sexuellen zu verwirklichen, musste man halt die rosarote Brille aufsetzen. Bestenfalls wurde diese im Laufe einer Partnerschaft bloß blasser, verlor aber nie gänzlich ihre Farbe. Niemand würde sie deswegen dumm oder gar schuldig nennen, nur sie selbst. Sie war noch nicht darüber hinweg. Vor allem, wenn dann die dunklen Augen Volkers wie aus dem Nichts auftauchten. Seine Blicke, die so wahr und ehrlich gewirkt hatten … Die gemeinsamen Stunden, in denen sie auch wieder geglaubt hatte, alles sei echt. Wie blöd muss jemand sein …, aber auch dieser Gedanke war weder tröstend noch gewinnbringend, stürzte sie nur tiefer in Depressionen. Sie ging regelmäßig zur Therapie und hatte das Gefühl, sich auch diesem Therapeuten mit gefährlicher Naivität anzuvertrauen. Sie wusste nicht, was am Ende herauskommen würde, vielleicht würde auch dieser Mensch sich als Betrüger herausstellen. Einerseits fasste sie schnell Vertrauen zu Menschen und Situationen, andererseits saß das Misstrauen wie ein Teufelchen auf ihrer Schulter. Sie war im ständigen Zwiespalt ihrer Gefühle. Manchmal hatte sie den Eindruck, nur eine Maske zu sein. Ihr Erscheinungsbild fand keinen Abgleich zu ihrer Seele. Doch das ist gut so, dachte sie, mein Inneres geht niemanden etwas an.
Mit Erleichterung verfolgte sie den Genesungsprozess ihres Vaters. Niemals hätte sie sich verziehen, wenn er wegen der Aufregungen gestorben wäre. „Es ist nicht wenig, was mich am Leben hält“, sagte er mehr als einmal und drückte seine Tochter öfter, als er das je getan hatte.
Marisa fand die Versuchungen, zum Alkohol zu greifen, ungleich größer als ihren Willen, dennoch waren es immer Kleinigkeiten, die sie vom Kauf einer Flasche Wein abhielten; ein Satz des Vaters, eine Umarmung der Mutter, ein Kaffee-Treffen mit Elke oder Yvonne, ein Film im Fernsehen, eine Stunde beim Therapeuten. Sie schaffte es, den Kopf oben zu halten und hatte schließlich wieder ein Gefühl von Beständigkeit.
Und dann tauchte Volker immer wieder auf …
Erst war es der flüchtige Augenblick in der Altstadt, der wie mit einem Fingerschnippen Volkers Grübchen lebendig machte, seine Bartstoppeln, sein Lachen und geheimnisvoller Blick. Dann, als das Bild gerade wieder verblassen wollte, stand er gegenüber ihrem Haus auf der Straße. Wie ein Geist tauchte er auf und verschwand. Jedes Mal hatte er ein Lächeln auf den Lippen, nickte ihr zu und wurde wieder unsichtbar. Marisas Nervosität nahm zu.
Was will er? Was bezweckt er? Will er mich wieder erpressen? Was soll das? Sie wollte am liebsten schreien. Sie hatte Angst um ihre gerade gewonnene Sicherheit, hatte Angst, wieder auf schöne Worte und schmeichelnde Blicke hereinzufallen.
„Was soll ich tun?“, fragte sie Yvonne. Sie telefonierten spätestens alle zwei Tage.
„Nichts“, sagte Yvonne, „du kannst nichts tun. Du kannst niemandem verbieten, auf der Straße zu stehen und zu gucken.“
„Du bist lustig! Da steckt aber doch eine Absicht dahinter!“
„Er will was von dir, das ist offensichtlich, aber bis jetzt hat er nichts gemacht, oder?“
„Nein, er steht nur, lächelt und geht wieder. Es macht mich verrückt!“
„Warum? Empfindest du was für ihn?“
„Ja, Wut! Auf ihn und auf meine Blödheit!“
„Sei nicht so hart mit dir. Das hätte jedem passieren können. Dass du kurz vor der Hochzeit was mit ihm angefangen hast, hatte sicher mehr Gründe als nur seine männliche Ausstrahlung.“
Marisa seufzte; Yvonne hatte natürlich recht, aber sie war es müde, darüber zu reden. „Sag mir nur, was ich tun kann“, bat sie erneut.
„Nichts, Marisa, lass ihn einfach stehen. Er wird dir nichts tun! Und wenn du Angst bekommst, kommst du für ein paar Tage zu mir. Oder ich komme zu dir, ich wollte dir sowieso noch eine Überraschung bringen!“
„Eine Überraschung? Das klingt gut. Wann kommst du?“
Zwei Tage später stand Yvonne mit einer Transportkiste aus Kunststoff, die vorne mit einer Gittertür versehen war, vor der Wohnung. „Was ist denn das?“, fragte Marisa zweifelnd, als sie die Tür geöffnet hatte.
„Darf ich vorstellen: Bruno!“ Yvonne öffnete das Gitter und heraus stürmte ein schwarz-weißes Knäuel Hund.
Lachend ließ sich Marisa auf die Knie nieder und erwiderte die stürmische Begrüßung des Hundes. Mit
Weitere Kostenlose Bücher