Dunkler Schnee (German Edition)
„Warum hast du so eine steile Falte auf der Stirn?“
Yvonne fasste sich schuldbewusst an die Stirn, ihr Blick war sorgenvoll. „Da ist was, was ich dir sagen muss.“
„Ja?“
„Ich hab einen Freund in Köln, du weißt schon, der von der Ausbildung damals, er ist gerade Teilhaber der Praxis Wißkirchen geworden. Er hat mir erzählt, dass Georg dich überall schlecht macht, von wegen, du seiest immer krank, unzuverlässig und würdest mit Patienten was anfangen. Du kannst dir denken, dass keiner so jemanden in seinem Team haben möchte.“
Marisa stellte ihren Ellenbogen auf den Tisch und stützte ihr Kinn auf die Hand. „Das sollte mich nicht wundern, hm? Einmal Arschloch, immer Arschloch.“ Sie seufzte. „Na ja, dann kann ich meine Bemühungen wohl einstellen. In Köln werde ich so schnell keine Arbeit finden.“
„Komm doch nach Aachen!“
„Ach Yvonne, Aachen ist nett, aber ich bin Kölnerin, ich kann nicht weit weg vom Dom wohnen.“
„Na ja, dann musst du deine Kreise eben um Köln herum ausweiten. Zumindest bis Gras über die Sache gewachsen ist.“
„Welche Sache? Außer dass ich mich hab gehen lassen, habe ich nichts verbrochen! Ich bin es, die das Opfer ist! Und anscheinend ist meine Pechsträhne immer noch nicht vorbei! Was habe ich diesem Georg getan, dass er mein Leben kaputtmachen will?“
„Hast du eigentlich von IHM noch mal was gehört?“
„Von wem? Laurens? Oder besser: Marco?“ Marisa lachte spöttisch. „Nee, der ist wie vom Erdboden verschluckt. Seit dem Einbruch gab es kein Lebenszeichen mehr. Hat sich bestimmt ins Ausland abgesetzt. Ist auch egal.“
„Das heißt, er kommt ungestraft davon?“
„Sieht so aus.“
„Macht dich das nicht wütend?“
„Was bringt es, wenn ich wütend bin? Nein, Yvonne, ich bin froh, dass ich wieder auf dem Damm bin. Es hätte schlimmer kommen können, weißt du. Es ist gerade noch mal gut gegangen. Und damit muss es auch gut sein.“ Sie zog an ihrem Strohhalm, dann lehnte sie sich zurück und schaute sich erneut um. An einem Mann blieb ihr Blick hängen. Irgendwas kam ihr bekannt vor … er saß an einem der Tische, die etwas abseits im Sonnenlicht standen, und sie konnte ihn nur im Halbprofil sehen. Irritiert versuchte sie am Kellner vorbeizusehen, der dort gerade kassierte.
„Das darf nicht wahr sein!“
„Marisa, was ist? Du bist ganz blass geworden!“ Yvonne blickte in dieselbe Richtung wie Marisa.
„Da ist Volker“, sagte diese tonlos. In dem Moment drehte Volker sich zu ihr herum und nickte ihr zu.
„Ob das ein Zufall ist?“
„Ich glaube nicht mehr an Zufälle“, antwortete Marisa und blickte schnell weg. Ein Kellner kam und fragte, ob sie noch Wünsche hätten.
„Ja!“, sagte Marisa lauter als nötig und fühlte prompt den besorgten Blick Yvonnes auf sich ruhen. „Ich hätte gerne einen … Espresso. Einen Doppelten.“ Sie grinste Yvonne an. „Keine Angst, alles okay.“ Dann wagte sie einen weiteren Blick an Volkers Tisch. Er war fort; andere Leute hatten den Tisch besetzt. Ein rascher Rundblick über Promenade, Tische, Menschen, doch er blieb verschwunden.
Der Frühling zog sich mit wechselhaftem Wetter dahin. Immer wenn Marisa sich entschloss, ihre Wintersachen in den Keller zu bringen, wurde es wieder kalt, sodass sie sich das Räumen noch sparte. Sie hatte ihre Bewerbungen eingestellt und sich stattdessen als mobile Masseurin selbstständig gemacht. Ihre Kundschaft war überschaubar, doch die Arbeit reichte gerade so, um den Lebensunterhalt zu bestreiten und keine Langeweile aufkommen zu lassen. Sie rang mit sich, gegen die falschen Anschuldigungen vorzugehen und Georg wegen sexueller Belästigung anzuzeigen. Gleichzeitig fühlte sie aber eine drohende Schwäche auf sich zukommen, wenn sie diesen Weg gehen würde. Auch wollte sie ihre Eltern nicht wieder belasten. Sie schlief schlechter, weil die Gedanken um die jüngere Vergangenheit durch Volkers Auftauchen wieder lebendiger als nötig geworden waren. Was hätte alles passieren können! Sie war wütend, so naiv gewesen zu sein, dass sie Laurens respektive Marco die wahre Liebe geglaubt hatte. Dass sie ihm Liebe und Vertrauen geschenkt hatte. So fühlt es sich also an, wenn man benutzt wird, dachte sie oft bitter. Ihr Verstand funktionierte und so war ihr klar, auch dank ihrer Therapie, dass ein großes Maß an Vertrauensvorschuss und den unbedingten Glauben an das, was Liebe genannt wird, Voraussetzung war, um überhaupt eine Bindung
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