Dunkler Schnee (German Edition)
Vorstellungen.
„Das ist nicht dein Ernst, oder?“ Sie kam unangemeldet in Georgs Büro und knallte ihm das Zeugnis auf den Tisch.
„Mir steht ein anständiges, qualifiziertes Arbeitszeugnis zu. Mit dem Wisch kann ich mich nirgendwo bewerben, das weißt du genau!“
Georg lächelte mokant. „Das ist aber schade. Nun: p p – persönliches Pech! Ich hab zu tun, bitte entschuldige.“ Er stand auf und öffnete die Tür.
„Ich werde dagegen angehen – so kommst du nicht davon! Du kannst froh sein, wenn ich dich nicht schon wegen der Kündigung verklage“, zischte Marisa, „das hier ist eindeutig zu viel!“ Wütend stand sie auf und nahm das Papier wieder an sich.
„Ach ja, dein Herr Vater ist Anwalt, nicht wahr? Huh! Da wird mir ja angst und bange!“
„Das sollte es auch! Du wirst dich noch wundern!“ Sie stand ihm gegenüber, roch seinen verrauchten Atem.
„Du könntest ein tolles Zeugnis bekommen, wenn du ein bisschen nett zu mir wärst“, sagte Georg, und sein Gesichtsausdruck bekam etwas zynisch Vulgäres, als er seine Zunge über die Lippen gleiten ließ. Marisa legte beide Hände auf seine Schultern, lächelte süß und rammte ihr Knie in seine Genitalien.
Er krümmte sich und stieß wilde Flüche aus. Marisa widerstand der Versuchung, ihm das Knie auch noch gegen sein Kinn zu stoßen. Mit hoch erhobenem Kopf verließ sie die Praxis.
Wenige Tage darauf erhielt sie ein neu verfasstes Zeugnis, das ihren Erwartungen genügte – zumindest so weit genügte, dass sie ihren Vater bat, die juristischen Vorgänge gegen Georg Müller einzustellen.
Claus war nach einem Aufenthalt in einer Rehabilitationsklinik so weit wiederhergestellt, dass er stundenweise seinen Geschäften nachgehen konnte. Den Großteil der Arbeit hatte einer seiner Partner mit dem frisch gebackenen Sozius Alexander Rose übernommen. Es stellte sich Entspannung innerhalb der Familie Demmer ein. Gudrun hatte mehr denn je mit ihren Immobilien zu tun, Claus nahm sich zu Hause viel Zeit für sein Hobby, die klassische Musik, und Marisa kam fast täglich zu Besuch. Ihre Wohnung hatte sie nach ihrem Klinikaufenthalt komplett auf den Kopf gestellt, die Wände farbig gestrichen, die Möbel ausgetauscht, um auch den letzten Rest an Erinnerungen der letzten eineinhalb Jahre zu tilgen. Tabula rasa in der Wohnung und in der Seele. Sie wohnte wieder allein und schwor sich, diesen Zustand mindestens drei Jahre lang nicht zu verändern. Sie sprach oft mit ihren Eltern über die vergangenen Monate; es war wie eine Ergänzung zu ihrer Gesprächstherapie. Von Woche zu Woche fühlte sie sich stärker und sicherer. Schließlich war sie so weit, dass sie ungerührt zusehen konnte, wenn ihre Eltern Wein tranken und sie selbst eine Apfelschorle auf dem Tisch stehen hatte. Die Kündigung traf auf ihrer Marisa-Oberfläche auf, drang nicht bis zu ihrer Seele durch und verursachte keine tiefen Probleme. Seit Georg sein wahres Wesen gezeigt hatte, lag ihr nichts mehr an der Praxis. Die Entscheidung, eine andere Stelle zu suchen, wurde damit vorweggenommen. Es störte sie nur wenig, den Zeitpunkt nicht selber bestimmen zu können, sie sah es vielmehr als längst überfällig gewordene Chance auf berufliche Veränderung.
Es gab in Köln einige freie Stellen für Physiotherapeuten, doch schon bald musste sie eine Ablehnung nach der anderen zu den Akten legen.
„Es ist unglaublich! Keiner lädt mich zum Vorstellungsgespräch ein! Ich verstehe das nicht!“ Sie saß ihrer Freundin Yvonne gegenüber. Sie hatten einen Bummel über die Rheinpromenaden gemacht. Die Bäume standen in vollem Grün, die Frühlingssonne kündigte mit Vehemenz den bevorstehenden Sommer an, der Rhein floss träge, aber mit silbrigem Schimmer durch sein Bett, und die Biergärten in der Altstadt quollen schon mittags von Gästen über.
Marisa löffelte Sahne von ihrer Eisschokolade und seufzte tief. Yvonne saß vor einem Latte macchiato, in dem sie versonnen herumrührte. Sie schauten sich den Trubel ringsumher an. Bunte Sonnenschirme, besetzte Tische, Kellner mit beinlangen Schürzen balancierten volle Tabletts zwischen den Tischen und riefen sich gut gelaunt die Bestellungen zu. Hin und wieder zwinkerte einer den beiden Frauen zu. Am Anlegesteg an der nahen Promenade lag ein Dampfer der Köln-Düsseldorfer Flotte; Leute drängelten sich am Ticketverkauf.
Marisa seufzte wieder. „Es fehlt nur noch ein Job, dann geht’s mir wieder richtig gut.“ Sie sah ihre Freundin an.
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