Dunkler Schnee (German Edition)
Georg erfrieren wird, wenn er nicht aus seiner misslichen Lage herauskommt. Und sie wird auch erfrieren, wenn sie nicht bald ins Warme kommt. Sie ist verzweifelt und so voller Wut, dass sie ihn am liebsten seinem Schicksal überlassen möchte, doch sie kann nicht.
Sie kann ihn nicht sterben lassen.
„Wir müssen Hilfe holen“, sagt sie leise und fragt, wo Georg sein Handy habe. In diesem Moment ertönt eine Rockmelodie aus Georgs Jacke.
„Na bitte, da haben wir es ja schon“, sagt sie und greift ihm in die Innentasche. Der Blick auf das Display lässt sie erstarren. Yvonne steht dort als Anrufer.
„Was ist? Hat alles geklappt?“, hört sie die aufgeregte Stimme ihrer Freundin, noch bevor Marisa etwas sagen kann.
„Alexander ist tot und Georg ist kurz davor“, gibt sie tonlos zur Antwort und drückt den Anruf weg.
„Yvonne?“, fragt sie mit rauer Stimme an Georg gewandt.
„Bitte, ruf die Ambulanz“, antwortet er statt einer Erklärung.
„Ich sollte dich verrecken lassen.“
„Yvonne und ich sind schon lange ein Paar. Es war ihre Idee, dir Angst einzujagen. Erst wollten wir die Praxis sanieren. Und dann wollten wir nur noch weg aus Deutschland.“ Er stöhnt und bewegt sich minimal hin und her. Als er weiterspricht, ist sein Zittern auch an der Stimme zu hören.
„Ich hatte Schulden, nicht nur wegen der Praxis, sondern auch wegen der Scheiß-Zockerei. Marco auch. Yvonne kennt ihn schon lange. Und Alexander haben wir als Spion gebraucht. Marco und Alex waren Schulfreunde. Es war Yvonnes Idee, Marco als Laurens auf dich anzusetzen. Sie kennt schließlich deine Vorlieben.“ Er hustet. Marisa meint, sie müsse kotzen.
„Warum Yvonne?“, sagt sie leise.
„Sie ist arbeitslos – schon lange. Und von irgendwas muss ja auch sie leben.“
Marisa sieht entgeistert auf ihren ehemaligen Chef herab. „Und da fällt euch nichts Besseres ein, als mich nach Strich und Faden zu verarschen?“ Ihre Stimme wird erst laut, dann dünn. Sie will schreien, weinen, jammern, den ganzen Schmerz rauslassen, aber es will nicht funktionieren.
„Und Volker?“, bringt sie mühsam heraus.
„Der ist nur Staffage.“
„Was habt ihr mit ihm gemacht?“
„Aus dem Weg geräumt.“ Georg hustet wieder.
„Ist er tot?“
„Ist irgendwo im Süden untergetaucht, nachdem wir ihn krankenhausreif geschlagen haben.“
Marisa atmet trotz allem kurz auf; sie wird später darüber nachdenken. „Und was sollte die Aktion mit dem Schmuck?“
„Ein letzter Versuch, wenigstens an ein bisschen Geld zu kommen. Die Steuer und die Mafia sitzen mir im Nacken. Ein paar Tausend reichen, um in Mexiko leben zu können. Wir sind ja schließlich keine Halsabschneider.“
Marisa steht auf und tritt knapp neben Georgs Kopf in den Schnee. Dann wendet sie sich ab und wählt die 911, um den Unfall zu melden. Anschließend zieht sie die Schmucktasche zwischen dem Leichnam und der Windschutzscheibe hervor und klettert zur Straße hoch. Sie ignoriert Georgs Jammern. Jetzt hat sie alles getan, ihn zu retten, mehr geht nicht, nicht unter diesen Umständen. Dass Yvonne die Drahtzieherin und die schlimmste Gegnerin ist, kommt noch nicht in Marisas Realität an. Dass alle Intrigen und Lügen ihren traurigen Höhepunkt im missbrauchten Vertrauen der angeblich besten Freundin haben, ist unfassbar. So unfassbar, dass die Worte und Gedanken eine dicke Schneehülle bekommen. Erst wenn der Schnee schmilzt, wird Marisa verstehen, was sie gerade erfahren hat. Zu müßig, sich jetzt damit zu beschäftigen.
Der Schnee hat die Reifenspuren schon wieder unkenntlich gemacht. Sie trottet an der Straße entlang, orientiert sich dabei an der Grenzlinie von Straße zum Graben und verliert jegliches Zeitgefühl. Der einzige Sinn des Lebens ist, die Kante zum Graben nicht zu übersteigen. Das kann ich!, denkt sie, das kann ich …
In der Ferne taucht ein orangefarbenes, flackerndes Licht auf. Es kommt auf sie zu. Dahinter sieht sie blau-rot-weißes Licht, das noch nervöser flackert. Dann ertönt das Horn eines Polizeiwagens. Sie wundert sich, dass die Stille plötzlich gestört wird, und sieht gespannt in die Ferne.
Endlich erkennt sie etwas, was sie schon mal gesehen hat, was ihr schon mal geholfen hat: Es ist ein Schneepflug! Wie aus einem Trancezustand erwachend realisiert sie das Ungetüm von Fahrzeug, gefolgt von Polizei. Marisa fängt wieder an zu denken, weiß, dass sie jetzt etwas tun muss, um wieder in eine andere Welt zu kommen.
Ich muss mich
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