Dunkler Spiegel
unbedingt versuchen müssen.
Es war ein Wald im Luberon, nicht weit von seinen heimischen Weinbergen entfernt. Ein sonniger Morgen ganz früh im Herbst. Man erkannte es an den Bäumen, das Grün der Birken und Eichen in diesem Wald war nicht mehr die frische Farbe des Frühlings, sondern das müdere, resignierte, reifer werdende Grün von Bäumen, deren Blätter bereits daran denken, sich zu verfärben. Hier und dort konnte man in dem Gesprenkel der Birken vor dem hellblauen Himmel ein Blatt sehen, das schon gelb geworden war, die Veränderung eingeleitet, den Sommer leise verraten hatte. Ganz typisch dafür, wie solche Veränderungen sich vollziehen, langsam, Blatt für Blatt: Die Anfänge sind »klein und kaum zu sehen«, wie der Dichter es ausdrückt, doch wenn man plötzlich aufschaut und sie bemerkt, kommen sie einem gewaltig vor.
Unter den noch unwesentlich verräterischen Birken und Eichen breiteten sich Teiche aus Schatten und Licht aus; und genau dort, im Schatten einer Eiche, aber von einem schmalen Sonnenstrahl erhellt, den ein nachlässiger Zweig hindurchgelassen hatte, schwebte ein kleiner, strahlender Fleck in der Luft: ein Schmetterling. Ein brauner Waldschmetterling mit einem breiten weißen Streifen, der zu der freien Stelle zwischen den Bäumen hinabflatterte. Sonst rührte sich nichts; der Wind raschelte nicht in den Bäumen, keine Bewegung, nur die perfekte, stille und reife Wärme jener Jahreszeit, in der die Trauben geerntet wurden: der perfekte erste Augenblick des Herbstes, in dem die Erde sich gerade darauf vorbereitete, sich den Rest des Jahres über zur Ruhe zu begeben.
Picard trat zurück und betrachtete das Bild. Das grelle Blau des Sommers von Südfrankreich zeigte sich über den oberen Blättern. Im düsteren Hintergrund konnte man hier und dort die Nadeln einer der Kiefern ausmachen, die den Wind abhielten. Alles außer dem Lichtstrahl mitten in der Luft und dem Blau über den Bäumen war weich und unbestimmt; der Boden war mit dem Braun vieler Jahre bedeckt. Er hatte sehr lange an diesem Boden gearbeitet, um ihn richtig hinzubekommen. Das falsche Licht, zu wenige oder zu viele Einzelheiten, und alles hätte falsch ausgesehen. Er wechselte die Pinsel, tupfte an der Palette, rieb den Pinsel trockener und legte etwas mehr Licht auf die Schwingen des Schmetterlings, damit sie goldener wurden und nicht mehr so weiß waren.
Er trat erneut zurück, bis er die Leinwand etwas unscharf sah und besser einschätzen konnte. Licht, Wärme, ein Gefühl des Friedens: die Antithese zu allem, was zur Zeit dort draußen war.
Sein Blick glitt zur Seite. Er dachte an den großen Philosophen in seiner alten Heimat, wie er, von lauten Straßen umgeben, die vorbeischeppernde Straßenbahn und das rege Treiben der Stadt in jenen Tagen betrachtet und geschrieben hatte: »Die Stille dieses unermeßlichen Raums erschreckt mich zu Tode.« Man mußte ein feines Gespür haben, um jene Stille, diese Stille, an einem solchen Ort hören zu können, durch den Lärm und das Scheppern der Zivilisation. Hier draußen war dazu kein so feines Ohr nötig. Man brauchte sich nur einen Augenblick von seiner Arbeit oder seiner Freizeitunternehmung abzuwenden, und diese Sternenwolken erinnerten einen daran, wie klein man war, und wie weit entfernt von den Dingen, die man vielleicht liebte. Picard wußte, der Philosoph hätte entgegnet, man sei von diesen Dingen nicht weiter entfernt als von seiner Halsschlagader: da man sie in sich trüge, sei man mit ihnen identisch. Einige würden sich an dem scheinbaren Widerspruch stoßen. Da Picard wußte, wie Philosophen waren, lächelte er lediglich und griff nach einem anderen Pinsel.
Der Türsummer ertönte. »Herein«, sagte er.
Lieutenant Commander Data kam herein und verharrte abrupt. »Ich störe Sie doch nicht, oder, Captain?«
»Jedenfalls bei nichts Wichtigem.« Picard legte den ersten Pinsel, den er ausgesucht hatte, wieder zurück, und entschied sich für einen anderen: für einen schmaleren mit gefächertem Rand. Data bat mit einem Stirnrunzeln um Erlaubnis, die Leinwand zu betrachten. Picard nickte, und der Androide kam herum.
Data betrachtete das Bild. »Ah«, sagte er. » Ladoga camilla. Oder Limenitis camilla , dem älteren Linnéschen System zufolge.«
Picard runzelte ebenfalls die Stirn, aber vor Überraschung. »Ist das so offensichtlich?« Schließlich bestand der Schmetterling nur aus einem Quadratzentimeter Farbe und ein paar mittelmäßigen
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