Dunkler Wahn
Jungen war ihm peinlich – und uns erst recht, allerdings aus anderen Gründen.
Walter redete auf den Kleinen ein, er solle sich nicht so anstellen, sondern zeigen, dass er ein echter Kerl sei. Aber Fred sträubte sich heftig.
Schließlich riss Walter der Geduldsfaden, und er gab ihm eine Ohrfeige, dass er rücklings in die Blutlache fiel. Der Junge war kreidebleich und starrte ihn wie vor Angst gelähmt an.«
Gessing senkte den Blick und seufzte. »Ich weiß, wir hätten in diesem Moment eingreifen sollen, aber dann kam Tatjana, und das veränderte alles.
Wahrscheinlich sah sie den idealen Moment gekommen, ihrem Vater zu zeigen, aus welchem Holz sie geschnitzt war. Sie schnappte sich einen der Schussapparate, ging zu dem Rind und streckte es nieder. Danach mussten wir handeln. Zwischen Schuss und Ausbluten darf nicht mehr als eine Minute verstreichen, andernfalls stockt der Blutfluss, und das Fleisch wird ungenießbar. Also kümmerten wir uns um das Rind, während Walter den Jungen am Kragen packte und aus der Halle zerrte.
Sie verschwanden im Wohnhaus. Auf dem Weg dahin brüllte er ihn an. Es sei ein feiges Mädchen, und seine Stiefschwester sei mutiger als er … na ja, so Sachen eben.
Danach kam Walter zu uns zurück, und keiner von uns wagte auch nur, ihn anzusehen. Stattdessen arbeiteten wir wie versessen und hofften, er würde seine Wut an keinem von uns auslassen.«
Wieder machte Gessing eine Pause und sah mit beinahe
entschuldigender Miene die beiden Männer an. »Was hätten wir sonst tun sollen? Walter hätte uns rausgeschmissen, und das konnte sich keiner von uns leisten.«
Jan entgegnete nichts. Er verstand noch nicht, worauf diese Geschichte hinauslaufen sollte. Hatte Tatjana aus Eifersucht die Gasleitung manipuliert, um sich an ihrem Vater zu rächen? War sie ein Opfer ihres eigenen Attentats geworden?
Aber welche Rolle spielte Fred dabei?
Gessing schien seine Gedanken erraten zu haben. »Das eigentlich Unheimliche kommt erst jetzt«, fuhr er fort. Er nahm wieder eine Prise von seinem Schnupftabak und musste mehrmals niesen, ehe er weitersprach.
»Es war das vorletzte Rind aus der Schleuse«, sagte er. »Wir hatten es gerade hereingeführt, und Walter ging mit dem Schussapparat darauf zu. In diesem Moment ging die Tür auf, und Fred kam herein. Sein Anblick verschlug uns allen die Sprache. Selbst Walter war so schockiert, dass er sich nicht rührte. Der Junge war barfuß, und jeder seiner Schritte patschte auf dem blutigen Boden. Er ging auf Walter zu, der ihn mit offenem Mund anstarrte, nahm ihm den Bolzenschießer aus der Hand und verpasste dem Rind einen Schuss in die Stirn. Genau dorthin, wo das X sich kreuzt. Als hätte er es schon hundertmal getan.
Das Rind brach augenblicklich zusammen, aber es war zäh. Es zuckte und trat mit den Hufen um sich. Wissen Sie, ein Bolzenschuss tötet nicht. Es ist nur eine Betäubung, und wenn die nicht ausreicht, nimmt man ein Drahtstück, führt es in das Schussloch ein und bewegt es schnell hin und her, um weiteres Hirngewebe zu zerstören. Und genau das tat der Junge. Dabei schrie er mit seiner gellend hohen Stimme, die nicht nur mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Wir hielten uns damals alle für hartgesottene Kerle, die schon viel gesehen hatten, aber in diesem Moment war keiner von uns in der Lage, zu dem Jungen zu gehen und einzuschreiten. Selbst Walter nicht. Denn der Junge …«
Gessing schluckte, wobei sein Adamsapfel auf und ab hüpfte. In seinen Augen spiegelte sich der Schrecken wider, den er seinerzeit empfunden haben musste und der nun wieder von ihm Besitz ergriff, während er die Vergangenheit zu neuem Leben erweckte.
»Herr Gessing, was hat Fred getan?«, fragte Jan, als der andere nicht weitersprach.
Gessing sah ihn an. »Das Schrecklichste daran war, dass der Junge ein Kleid seiner Stiefschwester trug.«
»Er hatte ein Kleid an?«, stieß Jan hervor. Er sah zu Stark, dessen Mund vor Staunen weit offen stand. Ihre Blicken trafen sich. Auf einmal verstand er.
Deshalb hatten sie Jana nicht gefunden. Sie hatten nach einer Frau gesucht, einer Geisteskranken, aber damit hatten sie nicht gerechnet.
»Ja«, nickte Gessing. »Ein helles Sommerkleid mit blauen Tupfen, das ihm zu groß war. Das werde ich nie vergessen. Es war über und über mit Blut bespritzt. Fred sah schlimm aus, Walter musste ihn höllisch verprügelt haben. Aber am schlimmsten war es, den Jungen in diesem Kleid zu sehen. Dieses Kleid …«
Wieder
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