Dunkler Wahn
AUS DEM SECHSJÄHRIGEN SVEN?
Und dann folgten die Artikel, die vor fast einem Jahr Jans Leben dominiert hatten:
RÄTSEL UM VERMISSTEN JUNGEN NACH 23 JAHREN GELÖST
BRUDER ERKLÄRT: ICH HABE DIE SUCHE NIE AUFGEGEBEN
Den krönenden Abschluss bildete der große Aufmacher, der dem Fahlenberger Boten eine Rekordauflage beschert hatte:
HELDENHAFTER PSYCHIATER DECKT SKANDAL AUF!
Weitere Ausschnitte stammten aus den letzten Monaten. Sie berichteten über die Fortschritte der neuen Kinder-und Jugendpsychiatriestation an der Waldklinik, und wo immer Jans Name erwähnt wurde, war er mit Rotstift umkreist.
In einer Ecke darunter drängten sich Artikel über Carla. Sie zeigten sie bei der Präsentation ihres Buches und bei Interviews. Es folgten mehrere Rezensionen zu Kalte Stille und ein Foto, auf dem Carla bei einer Lesung zu sehen war.
Beim Anblick des Fotos hatte Jan das Gefühl, als presste ihm jemand einen Eisbeutel in den Nacken. Carlas Gesicht war mit schwarzem Filzstift unkenntlich gemacht worden. Darunter stand das Wort Nutte in krakeligen Buchstaben geschrieben.
»Sehen Sie sich das an«, sagte Stark hinter ihm.
Jan wandte sich zu ihm um und sah eine Sammlung von Zeichnungen, mit denen die Innenseite der geborstenen Tür und die komplette Wand gepflastert waren. Sie waren im selben kindlichen Stil gemalt wie die Zeichnungen, die Jan erhalten hatte. Er erkannte das Motiv mit den weidenden Kühen, deren abgetrennte Köpfe auf einem Stapel lagen, sowie eine Darstellung des Schlachthauses, über die in großen roten Lettern das Wort HÖLLE geschrieben war, und eine Skizze des Harderhofes, der in Flammen stand.
Außerdem gab es mehrere Bilder, auf denen ein lächelnder Mann zu sehen war. Sein Kopf war wie der eines Messias von einem Glorienschein aus gelben Wachsmalstrichen umgeben. Über jedem der Porträts stand Jans Name, und unter dem größten fand sich die Zeile: Mein geliebter Retter .
Am schockierendsten jedoch fand Jan die Zeichnung eines blonden Mädchens, das über einem enthaupteten Jungen stand, der wohl Felix darstellen sollte. Sie hielt den Kopf des Jungen empor wie Bertran de Born in Dorés Illustration zu Dantes Inferno .
»Das Beste finden Sie hier«, sagte Wilke. Er zeigte auf die Regale. »Wie krank muss man sein, um so etwas zu sammeln?«
Jan und Stark gingen auf das Regal zu.
»O Gott!«, stieß Stark erschrocken aus, und auch Jan zuckte schockiert zurück.
Im mittleren Fach lagen drei Paar weibliche Brüste säuberlich aufgereiht nebeneinander.
»Keine Sorge, die sind nicht echt«, erklärte Wilke. »Aber sie sehen verdammt echt aus, nicht wahr? Bekommen Sie online in allen Größen. Und das hier auch.«
Er hob mit beiden Händen eine Verpackung hoch, auf der das Wort FemSkin aufgedruckt war. Als er den fragenden Blick der beiden sah, fügte er hinzu: »Ist ein Silikonanzug mit Maske, Brüsten und Vagina. Parfüm und das passende Schminkzeug dazu finden Sie im obersten Fach. In dem Aufzug hätte ihn nicht einmal seine eigene Mutter wiedererkannt.«
Mit pochendem Herzen leuchtete Jan in den oberen Teil des Regals, in dem sich Kosmetikartikel und Frauenkleider stapelten, Röcke und Blusen, wie man sie in Altkleidersammlungen finden konnte. Daneben sahen ihm zwei Styroporköpfe entgegen. Auf beide waren Perücken aufgezogen, die ebenso täuschend echt wie die Brüste wirkten.
»Die Kollegen hatten ja schon befürchtet, dieser Brustfetischist skalpiert Blondinen«, sagte Wilke. »Aber es sind wirklich nur Perücken. Ach ja, und wir haben hier noch
einen Laptop gefunden, der mit einem Hammer bearbeitet wurde. Wahrscheinlich gehörte er Nowak. Das würde erklären, weshalb er sich nicht getraut hat, ihn irgendwo zu entsorgen. Er lag im untersten Fach und ist vom Löschwasser nass geworden. Wir überprüfen jetzt, ob wir noch an Daten auf der Festplatte herankommen.«
Stark bückte sich und zog einen dicken Ordner aus dem Regalfach, auf das Wilke gezeigt hatte. Der Ordner stand zum Teil im Wasser, so dass seine untere Hälfte aufgequollen war und triefte.
»Was ist das?«, fragte Jan.
»Eine weitere Artikelsammlung«, murmelte Stark, während er vorsichtig die nassen Seiten voneinander löste. Dann seufzte er. »Es ist, wie wir schon befürchtet haben. Die Harders und Volker Nowak waren nicht die einzigen Opfer.«
Stark reichte Jan den Ordner. Er enthielt etliche Berichte über den Mord an einem Ulmer Unternehmer namens Matthias Lassek. Gefahndet wurde nach
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