Dunkler Wahn
es ernst nahm mit dem Spruch ›bis dass der Tod euch scheidet‹.
Walter hat ihr das aber nicht gedankt. Glauben Sie mir, falls er um sie getrauert haben sollte, war davon jedenfalls nichts zu bemerken. Er hat einfach weitergemacht wie bisher, als sei nichts gewesen.
In dieser Hinsicht war Tatjana anders. Sie hat in den ersten Wochen sichtlich getrauert, hat sich dann aber doch schnell wieder gefangen.
Als das Trauerjahr vorüber war, heiratete Walter wieder. Niemand weiß so recht, wo er seine zweite Frau kennengelernt hat, aber es gibt da so Gerüchte über ein Sozialheim. Vom Typ her glich sie seiner ersten Frau. Zierlich, ruhig und gutmütig. Außerdem war sie arm wie eine Kirchenmaus und von Walter abhängig.
Und sie hatte einen Sohn. Fred war zwei Jahre jünger als Tatjana und ihr genaues Gegenteil. Ein blasser, schlaksiger
Junge mit dunklem Haar, der kaum die Zähne auseinanderbekam. Ich habe ihn so gut wie nie reden gehört.
Der Junge bewirkte eine Veränderung bei Walter. Er behandelte ihn wie sein eigen Fleisch und Blut und ließ ihm Dinge durchgehen, für die Tatjana längst Prügel bezogen hätte. Bis dahin hätte ich nie geglaubt, dass Walter einem Menschen gegenüber Zuneigung empfinden kann, aber bei dem Jungen war es anders. Zwar musste er ebenso wie Tatjana auf dem Hof zupacken, aber wenn er dabei Fehler machte, zeigte sich Walter nachsichtig auf eine Weise, die keiner von uns von ihm gewohnt war – wahrscheinlich nicht einmal er selbst.
Tatjana nahm es ihrem Vater übel und piesackte ihren Stiefbruder, wann immer sie sich unbeobachtet fühlte. Sie war eifersüchtig, aber Walter interessierte das nicht. Er hatte doch endlich seinen Kronprinzen. Aber dann …«
Gessing verstummte. Er sah zum anderen Ende der Schlachthalle, dann runzelte er die Stirn.
»Es war Mitte Juni«, fuhr er schließlich fort, »genauer gesagt, am zehnten Juni 1991, ein Montag. An diesem Tag wurde der Junge zwölf, und Walter verkündete, er werde ihn heute zum Mann machen.«
Er grinste, als er die verdutzten Blicke der beiden Männer bemerkte.
»Nein, nicht so, wie Sie vielleicht denken«, sagte er. »Wir haben damals noch wöchentlich geschlachtet, immer montags, und der Junge sollte diesmal mithelfen.« Gessing sah Jan an. »Waren Sie schon einmal dabei, wenn ein Rind geschlachtet wird, Doktor?«
»Nein.«
»Das dachte ich mir. Kaum jemand weiß, wie viel Arbeit in einem Steak steckt, ehe es vor einem auf dem Teller liegt. Sehen Sie das schmale Tor da drüben?«
Er deutete zu der Stahltür am Ende der Halle, neben der ein Gitter zu einer abgeschrägten Fläche führte, über der mehrere Haken hingen.
»Da drüben werden die Schlachttiere hereingeführt«, erklärte er. »Der Gang ist gerade so breit, dass ein Rind durchpasst. Auf der anderen Seite der Tür stehen die übrigen Rinder in der Schleuse an und warten, bis sie an der Reihe sind. Man sagt zwar, dass diese Tiere dumm sind, aber glauben Sie mir, die wissen genau, was sie hier drin erwartet. Deshalb muss es schnell gehen.
Schlachten ist Akkordarbeit. Das Tier kommt herein, und noch bevor es Gelegenheit hat, in Panik zu geraten, setzt man ihm das Bolzenschussgerät auf die Stirn und drückt ab.
Das klingt einfacher, als es ist. Man braucht Kraft und Geschicklichkeit, damit einem der Schussapparat nicht abrutscht, und die Stelle muss genau stimmen, andernfalls leidet das Tier höllische Schmerzen. Bei Rindern stellt man sich ein X zwischen Augen und Hornansatz vor. Wo sich die Linien überkreuzen, ist der Schädelknochen am zerbrechlichsten. Der Bolzen wird durch eine Platzpatrone gezündet. Er durchschlägt die Stirn und dringt etwa zehn Zentimeter tief ein. Dabei zerstört er einen Teil des Gehirns und schnellt dann wieder in das Gerät zurück.
Und genau das war es, was Walter von dem Jungen verlangte. Er ließ ein Tier hereinführen und wollte seinem Stiefsohn den Umgang mit dem Schussapparat zeigen. Doch der Junge wollte nicht, also ließ Walter ihn zunächst nur zusehen.
Schlachten ist eine blutige Angelegenheit, wie Sie sich denken können, und wenn wir erst einmal drei oder vier Rinder abgearbeitet haben, waten wir hier buchstäblich im Blut. Ich kann mich noch erinnern, dass die Gummistiefel
des Jungen bis zu den Knöcheln in dem Rot verschwanden, als Walter ihn abermals mit zum Gitter zerrte. Das Rind kam herein, und der Junge begann zu schreien. Walter lachte zu uns Arbeitern herüber, aber nicht, weil er es komisch fand. Die Angst des
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