Dunkler Wahn
aufgeflammt, angefacht vom Wind, der unaufhörlich geweht hatte, als treibe er ein Spiel mit den Löschkräften.
Die Umgebung war weitläufig abgesperrt, und Schilder mit dem Warnhinweis
BETRETEN VERBOTEN!
ACHTUNG EINSTURZGEFAHR!
waren aufgestellt worden. Daneben hatten sich zwei Löschfahrzeuge der Brandwache postiert, vor denen sich eine Gruppe von Einsatzkräften versammelt hatte. Die Männer tranken Kaffee aus Pappbechern und unterhielten
sich mit betretenen Gesichtern, wobei sie immer wieder zu der Ruine sahen.
Als Jan und Stark die Absperrung passierten, kam ihnen ein Beamter der Spurensicherung entgegen. In jeder Hand trug er ein Paar Gummistiefel, die er den beiden Männern reichte.
»Ich hoffe, sie passen einigermaßen«, sagte er. »Sind die einzigen, die wir noch übrig haben. Sie werden sie da drin brauchen. Schutzhelme bekommen Sie vom Kollegen am Eingang.«
Jans Stiefel waren mindestens zwei Nummern zu groß, was es nicht gerade einfach machte, durch die Trümmer und die nassen und von Ruß und Schaum schmierigen Steinstufen zum Keller hinabzusteigen.
Doch weit mehr machte ihm der Gestank zu schaffen, der mit jedem Schritt zunahm. Eine beißende Mischung aus Brandgeruch, chemischen Löschmitteln und Moder hatte sich hier unten angestaut und verschlug ihm beinahe den Atem. Der Strom war abgestellt worden, und im Licht der Helmlampe kam es ihm vor, als stiegen sie durch den Rachen eines verwesenden Ungeheuers in dessen Eingeweide hinunter.
»Guten Tag, die Herren, willkommen in der Unterwelt. « Ein rundlicher Mann in weißem Overall winkte ihnen vom Ende des Ganges entgegen. Mit seinem Helm erinnerte er Jan an Bob den Baumeister aus dem Kinderfernsehen. »Ist einer von Ihnen Hauptkommissar Stark?«
»Das bin ich«, gab Stark zurück. »Und das hier ist Dr. Forstner.«
»Wilke, Kriminaltechnik«, stellte sich Bob der Baumeister vor. »Kommen Sie, es ist hier drüben.«
Sie wateten auf ihn zu. Bis auf das Löschwasser, das sich etwa knöchelhoch angestaut hatte, wirkte der Keller unversehrt.
Sämtliche Türen standen offen. Wahrscheinlich hatte die Feuerwehr hier unten nach weiteren Personen im Haus gesucht.
Jan sah in einen Abstellraum, der mit Möbeln und Kartons vollgepfercht war. Auf der anderen Seite befand sich ein Vorratskeller, in dem leere Flaschen und abgelöste Etiketten neben den Regalen schwammen.
»Wie Sie sehen, konnte das Feuer dem Keller nichts anhaben«, bemerkte Wilke, als sie bei ihm angekommen waren. Er patschte mit einer behandschuhten Hand auf die Wand. »Ist alles aus solidem Fahlenberger Granit gemauert. Gut für uns. Sie werden nicht glauben, was wir hier unten entdeckt haben. Meinen Kollegen ist jedenfalls die Sprache weggeblieben, und das will was heißen.«
Sie waren vor einer Holztür angelangt, die von der Feuerwehr aufgebrochen worden war. Nutzlos hing ein neuwertiges Vorhängeschloss am Riegel.
»Kommen Sie, Doktor«, sagte Stark mit leiser Stimme. »Sehen wir es uns an.«
Sie wateten in einen quadratischen Raum, der etwa vier mal vier Meter maß. Es roch nach dem nassen Sandboden, nach Farbe und Petroleum, und da war noch etwas, das Jan nicht einordnen konnte – etwas Süßliches, wie ein blumiges Raumspray oder Parfüm.
Die Mitte des Raumes nahm eine lebensgroße Marienstatue ohne Kopf ein, die aus dem Bestand der Kirche stammen musste. Von dem wurmstichigen Holzkörper blätterte Lackfarbe ab. Darüber hingen eine rote Bluse und ein grauer Damenregenmantel. An zwei Wänden standen angerostete Metallregale, die vor etlichen Jahren ein Sonderangebot in einem Baumarkt gewesen sein mussten, während die Länge der dritten Wand von einer Holzwerkbank eingenommen wurde.
Es war eine Werkstatt und doch auch wieder nicht. Nur noch die Löcher der Haken und die hellen Umrisse auf dem vergilbten Putz erinnerten an das Werkzeug, das dort lange Zeit gehangen haben musste. Viel war davon jedoch nicht mehr zu sehen, denn nun war die Wand über der Werkbank mit Zeitungsausschnitten übersät.
Jan ging darauf zu, ließ den Lichtkegel seiner Helmlampe darübergleiten und erschrak, als er die Artikel erkannte. Bei den älteren handelte es sich um Fotokopien und Ausdrucke aus dem Internetarchiv diverser Tageszeitungen. Auf mehreren davon war Jans Foto zu sehen.
Er las vertraute Überschriften, die ihm wie die sensationsheischende Kurzversion seiner schlimmsten Jugendjahre vorkamen:
FAMILIENTRAGÖDIE IN FAHLENBERG
SVEN NOCH IMMER VERSCHWUNDEN
WAS WURDE
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