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Dunkler Wahn

Dunkler Wahn

Titel: Dunkler Wahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wulf Dorn
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schluckte Gessing und verzog das Gesicht, als habe er einen bitteren Geschmack im Mund.
    »Wissen Sie jetzt, warum ich gesagt habe, Sie würden mich für verrückt halten? Als Sie diese Frau und die getöteten Rinder erwähnten, musste ich sofort an damals denken«, sagte er. »Denn nach der Explosion fand man Fred oben auf dem Hügel. Bis auf die Blessuren, die er von Walter davongetragen hatte, war er unverletzt. Er stand da
und hatte noch immer das blutige Kleid seiner Stiefschwester an.«
    »Dann geht es hier gar nicht um Tatjana«, brachte Stark hervor und sah dabei immer noch so aus, als habe man ihn wie aus heiterem Himmel geohrfeigt. »Es geht um den Jungen. Ich glaube es einfach nicht!«
    »Da ist noch etwas«, sagte Gessing. »Es war vor zwei Tagen, als ich abends aus dem Stall kam. Da glaubte ich eine Frau dort oben neben dem Baum stehen zu sehen. Ihre Haare wehten ihr um den Kopf. Sie trug ein Kleid unter ihrer Jacke. Ich konnte den Saum im Sturmwind flattern sehen. Sie sah zum Hof herunter und hat mir einen ziemlichen Schrecken eingejagt. Mir kam das Bild des Jungen wieder in den Sinn, aber dann machte ich mir klar, dass es wohl einfach nur ein dummer Zufall gewesen ist. Da oben gehen häufiger mal Leute spazieren, wenn auch nur selten bei einem solchen Mistwetter. So dachte ich zumindest, bis wir dann vorhin gesprochen haben …«
    Er stieß den Atem aus. Sein verzweifelter Blick ließ Jan an Schizophrene denken, wenn sie ihm versicherten, Dinge wirklich gesehen zu haben, die es eigentlich nicht geben kann.
    »Glauben Sie mir«, sagte Gessing, »ich bin kein Waschlappen, beileibe nicht, aber offen gesagt, macht mir der Gedanke eine Heidenangst, dass die Person da oben vielleicht gar keine Frau war.«
    Stark schüttelte immer wieder den Kopf, und auch Jan hatte Mühe zu glauben, was sie gerade erfahren hatten.
    »Dieser Fred«, sagte er, »was ist aus ihm geworden?«
    »Er kam bei einem Pfarrer unter«, sagte Gessing. »Dem Onkel, von dem ich den Hof bekam. Im Gegenzug sollte ich mich um Tatjana kümmern, weil er nichts mehr mit Walter oder seiner Familie zu tun haben wollte. Nicht,
nachdem seine Schwester durch Walters Verschulden ums Leben gekommen war und sein Neffe fast den Verstand verloren hätte.«
    »Wie hieß dieser Onkel?«, drängte Stark.
    Mit einer nervösen Geste fuhr sich Gessing durchs Haar. »Hören Sie, was ich Ihnen erzählt habe, werde ich vor keinem Gericht bestätigen. Und meine damaligen Kollegen ebenfalls nicht. Der Junge konnte nichts dafür. Walter selbst ist für alles verantwortlich. Wer einen kleinen Jungen zu etwas Derartigem treibt, hat es nicht anders verdient.«
    »Sagen Sie uns den Namen!«, fuhr Stark ihn an.
    Gessing schluckte und senkte den Blick. »Thanner. Er hieß Thanner.«
    »Thanner? Dann muss dieser Fred mit Felix Thanner verwandt gewesen sein«, stellte Jan an Stark gewandt fest. »Am Telefon blieb Felix zu wenig Zeit, also wollte er uns durch Tatjana auf Freds Beweggründe hinweisen.«
    »Nein«, widersprach ihm Gessing. »Fred war nur sein Spitzname. Für uns war er immer nur Fred, weil er so dürr und schlaksig wie Fred Astaire war. Dieser Tänzer aus den Schwarz-Weiß-Filmen, verstehen Sie? Und Felix fand das witzig …«
    »Wie bitte?« Stark schluckte. »Der Junge war Felix Thanner?«
    Gessing sah zu ihm auf und nickte. »Ja, so hieß er.«
    Sprachlos sahen Jan und Stark den Viehzüchter an, und in der großen Schlachthalle breitete sich beklemmendes Schweigen aus. Weit entfernt muhten die Rinder, und irgendwo hallte leises Tropfen von den Kachelwänden wider.
    In diesem Moment klingelte Starks Handy, und alle drei fuhren zusammen. Stark fluchte leise und nahm den Anruf
entgegen. Als er das Telefonat beendet hatte, war alle Farbe aus seinem Gesicht gewichen.
    »Das wird immer verrückter«, sagte er zu Jan. »Kommen Sie, wir müssen sofort zurück nach Fahlenberg.«

74
    Als Jan und der Hauptkommissar die ehemalige Pfarrei der Christophorus-Kirche erreichten, bot sich ihnen ein Bild der Verwüstung. Nur noch die verkohlten Überreste des Fachwerkhauses waren übrig geblieben. Nasser Ruß und Schaum tropften von den schwarzen Balken, die einem prähistorischen Skelett ähnelten und an denen Trümmerstücke wie vereinzelte Fleischbrocken hingen.
    Es hatte lange gedauert, ehe die Feuerwehrmänner den Brand unter Kontrolle bekommen hatten, und noch länger, bis das Feuer schließlich gelöscht gewesen war. Trotz des Regens waren immer wieder Brandnester

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