Dunkler Wahn
trotzig. »Das verstehe ich nicht. Überhaupt verstehe ich nicht, warum du so abweisend bist. In der anderen Welt warst du es nicht. Dort hast du mir gesagt, dass du mich liebst und mich hier rausholen wirst.«
»Nein«, ächzte Jan. Sein Kopf dröhnte, und er schloss die Augen. »Das habe ich nicht. Das war nur in deiner …«
»Doch, das hast du!«, fuhr sie ihn an. Ihr Blick war der eines trotzigen Mädchens, das mit aller Entschiedenheit auf seinem Recht bestand. »Du hast gesagt, dass du diese Welt für schlecht hältst, so wie ich. Für unrein. Nur unsere Liebe ist rein. Das waren deine Worte.«
»Nur in deiner Fantasiewelt!«
»Nein!« Zornig stampfte sie mit dem nackten Fuß auf. »Was kann dir diese Carla denn schon bieten, hä? Ihren Körper, der in ein paar Jahren verwelken wird. Sie wird fett und faul werden, sobald sie dich sicher für sich weiß, und sie wird dich mästen, damit du ebenfalls fett und faul wirst. Und damit du es nicht merkst, wird sie dich verführen. Sie wird wie ein Tier über dich herfallen, und ihr werdet widerliche Dinge miteinander tun. Feuchte, stinkende Dinge, übertüncht von Heuchelei und Liebesschwüren, die nicht den Atem wert sind, den ihr dafür verbraucht. Darum geht es doch in dieser Welt, oder? Ficken, lügen und heucheln. Was weiß sie denn schon, was Liebe ist!«
»Deine Wahnfigur ist eifersüchtig, Felix«, sagte Jan so ruhig wie möglich. Er versuchte Blickkontakt herzustellen, doch es gelang ihm nicht. Jana wandte den Kopf hin und her und wich ihm aus.
»Jana ist nicht real«, betonte er. »Sie hat keinen Körper.
Deshalb verabscheut sie alles Körperliche. Aber du, Felix, könntest ein normales Leben führen. Ein Leben ohne Leiden und Schuldgefühle. Was du als Junge getan hast, war die Verzweiflungstat eines misshandelten Kindes. Jeder wird das verstehen. Lass dir von mir helfen. Du hast doch nach einem Retter gesucht, nicht wahr, Felix?«
Sie schlug ihm mit aller Härte ins Gesicht.
»Halt dein verdammtes Maul, hörst du!«, fauchte sie. »Halt. Dein. Verdammtes. Maul!«
»Nein, das werde ich nicht! Du bist nicht Jana. Jana gibt es nicht! Felix, komm schon, rede mit mir!«
Wieder schlug sie ihm ins Gesicht. Zuerst links, dann rechts. Seine Wangen brannten von der Härte ihrer flachen Hand.
Dann sprang sie vom Stuhl auf und lief in die Küche. Jan hörte, wie eine Schublade aufgezogen wurde.
»Felix, nein!«, rief Jan. »Hör mir doch zu. Jana kann dir nichts anhaben. Es gibt sie nicht wirklich. Aber dich gibt es! Mach dich von ihr frei! Es ist noch nicht zu spät.«
Sie kam aus der Küche zurück. In einer Hand hielt sie das Klebeband, mit der anderen winkte sie ihm mit einer Küchenschere zu.
»Ich habe gesagt, du sollst ruhig sein«, sagte sie mit bedrohlich leiser Stimme.
»Bitte nicht, Felix!«
»Noch ein einziges Wort, und ich schneide dir die Zunge heraus, hast du das verstanden?« Sie hob die Schere vor sein Gesicht. »Ich kann das. Papa hat mir gezeigt, wie das geht. Und eine Rinderzunge ist deutlich größer als deine. Also sag lieber nichts mehr.«
Das Kerzenlicht spiegelte sich auf der Schneide. Es war eine große Schere, mit der man mühelos Pappkartons oder Plastik durchschneiden konnte. Nun schnitt Jana einen
langen Streifen des Klebebands damit ab. Sie kam dicht an ihn heran, klebte es ihm über den Mund und umwickelte seinen Kopf.
Jan wehrte sich nicht. Sein Blick war nur auf die Schere in ihrer Hand gerichtet. Eine Hand, die vor nicht allzu langer Zeit Volker Nowaks Kopf gepackt und ihn zwischen Fahrertür und Wagen gezerrt hatte, um dort seine Kehle zu zerquetschen.
»Was weißt du schon von Schuldgefühlen?«, sagte sie und drückte das Band fest.
Dann trat sie von Jan zurück. Sie betrachtete ihr Werk und nickte zufrieden.
»Ich wollte den Gasherd nicht aufdrehen. Ich wollte auch nicht die Kerze auf den Küchentisch stellen. Aber was hatte ich denn für eine andere Möglichkeit, Papa zu mir zu holen? Dorthin, wo alle so sind wie ich.«
Weinend wandte sie sich ab und verschwand erneut in der Küche. Für eine Weile war nur ihr Schluchzen zu hören. Dann fauchte sie ein einzelnes Wort.
» Heulsuse! «
Das Schluchzen endete abrupt, als hätte sie es abgeschaltet, und Jan vernahm das Klappern der Kühlschranktür. Gleich darauf hörte er, wie sie ein Glas aus dem Küchenschrank holte.
Als sie zu ihm zurückkehrte, hielt sie zwei Weingläser in den Händen. Sie stellte eines davon vor Jan auf dem Tisch ab, zog einen Stuhl
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