Dunkler Wahn
und beschloss, es sei am besten, in die Offensive zu gehen. »Man merkt deutlich, dass Sie sich sehr für die Psychiatrie interessieren. Ja, Sie haben Recht. Eine Hilfestellung, wie wir Sie jetzt umsetzen werden, hätte mir damals geholfen, und es ist mit Sicherheit einer der Gründe, warum ich mich dafür starkmache. Wenn Sie so wollen, schöpfe ich dabei aus meinen eigenen Erfahrungen und gebe dadurch den Ereignissen von damals einen Sinn.«
»Das war mir sofort klar, als ich das Buch über Sie las.« Bettina bedachte ihn mit einem Blick, dem er kaum standhalten konnte. »Und das meinte ich auch, als ich Ihnen heute sagte, dass Sie ein ganz besonderer Mensch sind. Sie machen immer das Beste aus Ihrer Situation und lassen sich nicht unterkriegen. Das ist Ihre Stärke.«
Jan wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Einerseits ehrte es ihn, dass sie ihn bewunderte, aber es machte ihn auch verlegen. Zu allem Überfluss merkte er, dass er errötete, und das ärgerte ihn. Diese junge Frau, die eigentlich
noch ein Mädchen war und die am Ende dieses Abends in ihren rostigen Opel Corsa mit dem Deine Lakaien -Schriftzug auf der Heckscheibe steigen würde, hatte es tatsächlich geschafft, ihn wie einen schüchternen Schuljungen aussehen zu lassen.
Noch während er nach der richtigen Antwort suchte, schenkte sie ihm ein breites Lächeln und deutete auf seinen Teller. »Jetzt will ich Sie aber nicht länger aufhalten. Sie sind ja noch gar nicht zum Essen gekommen.«
Sie prostete ihm mit ihrer Sektflöte zu, verabschiedete sich mit einem »Bis morgen« und verschwand daraufhin im Getümmel des Abends.
9
Allein Jans Gegenwart genügte, um ihre dunklen Gedanken zu vertreiben. Es war die richtige Entscheidung gewesen, zu dieser Veranstaltung zu gehen, auch wenn ihr die vielen Menschen unheimlich waren.
Jetzt, da sie Jan nahe war, schienen alle Düsternis und Niedergeschlagenheit wie weggeblasen. Wie er dastand, an seinem Sekt nippte und die Menschen um sich herum beobachtete, gab ihr wieder einmal das Gefühl, wie ähnlich sie sich doch waren. Sie waren beide Beobachter, die sich stets am Rand der Menge aufhielten und nicht gern im Mittelpunkt standen. Wer beobachtete, behielt den Überblick, und wer den Überblick behielt, war all den eingebildeten Wichtigtuern überlegen.
Sie liebte ihn, weil er ein leiser Mensch war. Trotzdem war er nicht unscheinbar. Im Gegenteil, mit seiner Rede
hatte er wieder einmal bewiesen, dass er Menschen beeindrucken konnte. Und auch wenn es vielleicht nur eine Äußerlichkeit war: Er war der bestaussehende Mann an diesem Abend. Mit seinem modisch geschnittenen Anzug in dezentem Grau, dem weißen Hemd und der gelockerten Krawatte wirkte er auf sie wie ein Filmstar.
Ja, er ist bestimmt ein wenig eitel , dachte sie bei sich und musste schmunzeln. Jan Forstner mochte das Gesicht, das ihm aus dem Spiegel entgegensah, daran hatte sie keine Zweifel. Und warum sollte er es auch nicht mögen? Sie mochte es doch ebenfalls. Sein Gesicht war das Erste, was sie beim Aufwachen vor sich sah, und wenn sie abends die Augen schloss, sah sie es noch immer.
O Jan, meine Gedanken sind ständig bei dir. Ich kann es kaum noch erwarten, bis du meine Nachricht bekommst.
Aber warum sollte sie eigentlich noch warten? Was wäre, wenn sie einfach wieder zu ihm ginge? Dieser Gedanke erregte sie. Vielleicht lag es am Alkohol, aber plötzlich war ihr danach, es ihm zu sagen.
Er stand jetzt nur wenige Meter von ihr entfernt. Fast glaubte sie, den Hauch seines Aftershaves zu riechen. Eine leichte Holznote, die zu ihm passte. Maskulin, aber nicht aufdringlich.
Sie musste nur ihren Mut zusammennehmen, ein paar Schritte geradeaus gehen, und schon wäre sie bei ihm.
Mein Gott, ich könnte es wirklich tun!
Und dann tat sie es. Statt weiter zu grübeln und zu zögern, überwand sie all ihre Angst und schob sich an den Leuten vorbei. Das Herz pochte ihr bis zum Hals. Es waren nur noch wenige Schritte.
Ich werde es ihm geradeheraus sagen. Jan, ich liebe dich. Und er wird mir antworten, dass er mich ebenfalls liebt. Ich kann es fühlen!
Doch als sie an dem Platz ankam, an dem er noch bis vor ein paar Sekunden gestanden hatte, war Jan Forstner nicht mehr da. Nur noch das halbvolle Sektglas stand neben dem verlassenen Teller.
10
Die Toiletten befanden sich im Untergeschoss des Festsaals, und Jan genoss die Stille, während er sich erleichterte. Er war kein Mensch für Großveranstaltungen – das war er noch nie gewesen
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