Dunkler Wahn
nichts. Ab und zu habe ich eben solche Tage.«
Das passt zu deinem Krankheitsbild , dachte Jan und fühlte sich in seiner Ferndiagnose bestätigt. Heftige Stimmungs-schwankungen, die zum Teil binnen kürzester Zeit auftreten konnten, waren bei Psychotikern nicht ungewöhnlich.
Sie seufzte. »Weißt du was? Der Mensch ist das einzige Wesen, das sich selber hassen kann.«
»Und du hasst dich jetzt?«
»Ja.«
»Weshalb?«
»Weil ich so bin, wie ich bin«, flüsterte sie. »Ich wäre so gerne anders. So wie alle anderen. Dann müsste ich mich nicht mehr verstecken. Ich könnte ein ganz normales Leben führen.«
Jan versuchte zu verstehen, was sie damit meinte.
Sprach sie von ihrer geistigen Störung, oder gab es da noch etwas anderes ? War sie womöglich auf irgendeine Art entstellt und musste sich deshalb verstecken, weil sie den Spott und die Blicke ihrer Umwelt nicht ertragen konnte? Suchte sie deswegen einen Partner, für den sie schwärmen konnte, obwohl sie wusste, dass es nie mehr sein würde als eine Schwärmerei, weil sie sich einer realen Partnerschaft gar nicht gewachsen fühlte?
Vielleicht war es so. Vielleicht war viel zu viel in ihr zerstört, um sich auf das einlassen zu können, was sie unter einem »normalen Leben« verstand.
»Warum kannst du es nicht?«, fragte er. »Was hindert dich daran?«
»Das weißt du doch. Wir haben doch schon so oft darüber gesprochen.«
»Aber nie in der realen Welt«, sagte Jan und dachte: Ich muss sie aus der Reserve locken. Ich muss sie dazu bringen, mir mehr über sich zu erzählen. Gib mir endlich einen Anhaltspunkt, wer du bist.
»In der realen Welt haben wir auch noch nie über unseren Plan gesprochen«, fügte er hinzu.
»Wirklich nicht?«
»Nein.«
Sie kicherte, als sei ihre Depression von einem Moment zum anderen verschwunden. Und wahrscheinlich war es auch so. »Ich werde dir ein Geschenk machen. Eines, das du nie vergessen wirst.«
»Ist das dein Plan?«
Wieder das Kichern. »Willst du wissen, wie ich darauf gekommen bin?«
»Ja, aber lass uns zuerst über den Plan reden. Was hast du vor?«
»Also, es ist schon eine Weile her«, begann sie, ohne
auf seine Frage einzugehen, »da habe ich an der Schnellstraße zwei Eichhörnchen beobachtet. Ein Männchen und ein Weibchen. Ich kann das zwar nicht unterscheiden, aber ich bin mir trotzdem sicher, dass es ein Pärchen gewesen ist. Das größere von beiden war tot, ich denke, es war das Männchen. Sie hatten versucht, die Straße zu überqueren, und ein Lastwagen hatte es überrollt. Das Weibchen saß lange Zeit am Straßenrand und musste zusehen, wie sein Partner wieder und wieder überfahren wurde. Es war so traurig, Jan. Der Anblick hat mir fast das Herz zerrissen. Und weißt du, was das Weibchen dann gemacht hat?«
»Nein, sag es mir.«
»Es ist auf die Straße gelaufen und hat sich ebenfalls überfahren lassen«, sagte sie, und die Heiterkeit in ihren Worten ließ Jan schaudern. »Es hat sein Leben geopfert, um wieder bei seinem Liebsten zu sein. Ist das nicht wunderbar ? Das ist die wahre Liebe, Jan. Nicht das, was man uns in diesen Kitschromanen weismachen will. Es ist so leicht gesagt, dass man jemanden liebt, aber kaum jemand ist bereit, es auch wirklich zu beweisen. Mit allen Konsequenzen, meine ich.«
»Aber du bist bereit dazu?« Jan hielt den Hörer umkrampft, dass ihm die Finger schmerzten. »Du willst mir deine Liebe beweisen?«
»Ja, du wirst schon sehen.« Noch immer sprach sie mit dieser heiteren Unbeschwertheit, die ihm eine Gänsehaut über den Körper jagte.
»Und wann wird das sein?«
»Schon bald«, erwiderte sie im Tonfall eines kleinen Mädchens, das kaum noch erwarten konnte, jemanden mit etwas zu überraschen, das sie für etwas ganz Besonderes hielt. Vielleicht mit etwas Selbstgebasteltem oder einem weiteren Bild. Oder mit etwas wesentlich Schlimmerem .
»Warum nicht jetzt gleich, Jana?«
Das traf sie unvorbereitet. Jan konnte hören, wie sie die Luft anhielt.
»Aber … ich kann doch nicht …«, stieß sie schließlich hervor und stockte.
»Jana, bitte, ich möchte dich jetzt sehen«, sagte er und bemühte sich, dass sein flehentlicher Tonfall überzeugend klang. »Ich verspreche dir, alles zwischen uns wird rein bleiben. Ich möchte dich einfach nur sehen .«
Augenblicke des Schweigens. Jan bebte am ganzen Körper. Er hatte alles auf eine Karte gesetzt, war in die Offensive gegangen.
Stille.
»Ich weiß nicht«, sagte sie schließlich zögerlich. »Das
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