Dunkler Wahn
wissen willst, was das Drecksluder tut, dann schau doch mal in dem alten Hotel am Stadtrand vorbei. Sieh dir an, was sie in Zimmer neunzehn treibt.«
Jan warf den Hörer auf den Schreibtisch und stürmte aus dem Büro. Auf dem Gang standen mehrere Schwestern und Patienten und sahen ihn. Sie mussten ihn schreien gehört haben. Ohne weiter auf ihre fragenden Blicke zu achten, rannte er an ihnen vorbei und wäre fast die Treppen zum Erdgeschoss hinabgestürzt.
Wenn du wissen willst, was das Drecksluder tut , echote Janas Stimme in seinem Kopf, und er glaubte, ihr gehässiges Grinsen bei diesen Worten vor sich zu sehen.
… in dem alten Hotel am Stadtrand …
Bitte, lieber Gott, lass mich nicht zu spät kommen!
52
»Da sind Sie ja! Ich habe Sie schon überall gesucht.«
Edith Badtkes Worte hallten in der Kirche wider, während sie durch den Mittelgang auf die vorderste Bankreihe zuging, in der Felix Thanner kniete.
Er trug noch immer sein Messgewand. Wahrscheinlich hatte er sich gleich nach der Beerdigung hierher zurückgezogen.
Als sie neben ihm stand, blickte der junge Pfarrer auf, und Edith Badtke erschrak. Seine Augen waren feucht und gerötet. Er hatte geweint. Edith Badtke setzte sich zu ihm auf die Bank und sah ihn bestürzt an.
»Mein Gott, Herr Pfarrer, was ist denn nur los mit Ihnen? «
Thanner presste die Lippen zusammen und rieb sich die Schultern, als sei ihm eiskalt. Sie ließ sich in die Bankreihe neben ihm sinken und sah ihn besorgt an.
»Wollen Sie mir nicht endlich sagen, was Sie bedrückt? Irgendetwas stimmt doch nicht, das sieht ja selbst ein Blinder. Ständig muss ich Sie zum Essen überreden, und Sie sehen aus, als hätten Sie schon ewig nicht mehr richtig geschlafen. Vorhin bei der Beerdigung hatte ich schon Sorge, dass Sie jeden Moment zusammenbrechen, und nun hat mich auch noch die Waldklinik angerufen, weil Sie nicht zur Seelsorgesprechstunde erschienen sind. So kann das doch nicht weitergehen.«
»Ich … ich kann nicht mehr«, flüsterte Thanner und schlug die Augen nieder. Wieder sah sie Tränen über sein Gesicht rinnen.
»Warum vertrauen Sie mir nicht einfach und sagen mir, was Sie so sehr belastet?«
»Weil ich es nicht darf«, sagte er leise.
»Dann sagen Sie mir wenigstens so viel, wie Sie sagen dürfen .«
Er hob den Kopf und sah sie an. »Wenn Sie die Möglichkeit hätten, Unheil zu verhindern, und wenn Sie gleichzeitig wüssten, dass Sie damit Ihr eigenes Seelenheil aufs Spiel setzten, was würden Sie dann tun?«
»Mein Seelenheil?« Sie sah ihn fragend an. »Wie meinen Sie das?«
»So, wie ich es sage. Sie würden alles verlieren, das Ihnen etwas bedeutet. Sie würden zur Hölle fahren, weil Sie eine schwere Sünde begehen müssten. Vielleicht sogar die schwerste von allen. Aber im Gegenzug würden Sie damit das Leben anderer retten.«
Sie sah ihn mit großen Augen an und nickte. Deutlicher musste Thanner nicht werden, denn nun verstand sie, welcher Gewissenskonflikt den jungen Pfarrer quälte. Er wusste etwas, das ihn innerlich zerfraß. Irgendjemand musste ihm in der Beichte etwas sehr, sehr Schlimmes anvertraut
haben. Etwas, bei dem es um Leben und Tod ging. Warum sonst sollte er nicht darüber reden dürfen, wenn es nicht unter das Beichtgeheimnis fiel?
Nun begriff sie auch, weshalb er neulich sämtliche Termine abgesagt und den Bischof um eine Audienz gebeten hatte. Aber was sollte sie diesem armen Kerl nur raten, wenn ihm nicht einmal der Bischof hatte helfen können?
Am besten rätst du ihm, was du selbst an seiner Stelle tun würdest , sagte ihre innere Stimme. Das, was dir der gesunde Menschenverstand gebietet.
»Sehen Sie, ich bin nur eine kleine Pfarrangestellte«, sagte sie und zuckte mit den Schultern, »aber ich bin auch eine alte Frau, die schon viel erlebt hat. Deshalb frage ich mich, ob es denn wirklich eine so schwere Sünde wäre, wenn Sie mit jemandem darüber sprechen würden? Denn wenn es so ist, wie Sie sagen, könnten Sie vielleicht tatsächlich andere vor Unheil bewahren.«
Er nickte finster. »Ja sicher, aber nach dem Verständnis unserer Kirche wäre es dennoch eine Sünde. Eine sehr schwere sogar.«
Sie atmete tief durch.
»Tja, die Kirche«, sagte sie. »Ich will gewiss nichts Falsches sagen, Herr Pfarrer, aber die Kirche besteht doch auch nur aus Menschen. So sehe ich das wenigstens. Und warum sollte sich daher nicht auch die Kirche einmal irren?«
Felix Thanner stieß einen herzerweichenden Seufzer aus, in dem all seine
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