Dunkler Wahn
klang erschrocken und unsicher. »Ich kann alles erklären!«
Im selben Moment hörte Jan noch eine zweite Stimme. Sie stieß merkwürdig gedämpfte Laute aus, die wie ein Würgen klangen. Es war eine Frauenstimme.
Carlas Stimme!
Jan warf sich gegen die Tür, und als dies nichts bewirkte, versetzte er ihr einen Tritt. Schon beim zweiten Versuch
splitterte das billige Furnierholz, und als Jan ein drittes Mal dagegentrat, flog die Tür auf.
Jan stürmte in das Zimmer und blieb im nächsten Moment wie angewurzelt stehen. Er spürte, wie ihn Schwindel ergriff. Er konnte nicht glauben, was er sah.
54
»Nun geben Sie schon Gas, Mann!«, fuhr Stark seinen jungen Kollegen an, woraufhin der Streifenpolizist zu einem waghalsigen Überholmanöver ansetzte.
Der Hauptkommissar hielt sich am Armaturenbrett fest und warf einen Blick zur Uhr, während der Streifenwagen mit heulender Sirene an einem Kleinlaster vorbeischoss. Seit Forstners Anruf waren bereits sechs Minuten vergangen. Der Psychiater hatte panisch geklungen. Stark konnte nur vermuten, dass es etwas mit dem zu tun hatte, was Forstner ihm nach der Beerdigung hatte erzählen wollen.
Die Frau , hatte Forstner ihm durch das Telefon zugerufen, ich weiß, was sie als Nächstes vorhat .
Stark hatte sich also nicht getäuscht, als er vermutete, dass der Psychiater in Eigenregie eine Spur verfolgte. Nun hoffte er, dass sie sich wenigstens als die richtige erwies. Alle Ermittlungen der letzten Tage hatten Stark und sein Team nur in Sackgassen geführt. Weder ein DNS-Abgleich am Tatort hinter Nowaks Haus noch die zweifelhaften Aussagen der Zeugen – von denen sich die meisten als Wichtigtuer, Belohnungsjäger oder ganz einfach als Spinner erwiesen – hatten sie weitergebracht.
Sie jagten ein Phantom, das ihnen keinerlei Rückschluss
auf ein Tatmotiv bot – außer der Tatsache, dass diese Frau wahnsinnig war. Stark hoffte inständig, dass Forstner tatsächlich etwas herausgefunden hatte, das sie weiterbringen würde.
Und dennoch war dem Hauptkommissar nicht wohl in seiner Haut. Am Telefon hatte Forstner nicht so geklungen, als wollte er ihm nur eine neue Tatverdächtige präsentieren. Es hatte eher so geklungen, als würden sie zu einem neuen Tatort gerufen.
55
Jan war wie gelähmt. Es war ein Alptraum. Ja, es musste ein Alptraum sein!
Das blutrote Licht, in das das Hotelzimmer getaucht war, der übelkeiterregende Geruch des muffigen Raumes, in den sich Aftershave, Adrenalin und Körperausdünstungen mischten.
Das träume ich nur. Gleich werde ich aufwachen und diese grausigen Bilder abschütteln. Ich werde aus dem Bett steigen, in die Küche gehen, und dort wird Carla schon auf mich warten. Wir werden Kaffee trinken, und wir werden über die Absurdität dieses Traumes lachen. Wir …
Nein, es ist kein Traum , widersprach ihm eine innere Stimme, die sich nicht durch die Macht des Schocks irritieren ließ. Das hier ist wirklich. Carla ist wirklich. Das Bett, an dem sie mit gespreizten Armen und Beinen festgekettet ist, ist wirklich. Alles hier ist wirklich!
Entsetzt starrte er auf Carla. Ihr Gesicht war von Tränen und Schleim verschmiert, ihre Augen so weit aufgerissen,
dass sie fast aus den Höhlen traten. Der Lederknebel verzerrte ihren Mund zu einer grotesken Grimasse, als ob ihr die Todesangst ein hässliches Grinsen ins Gesicht geschnitten hätte. Ihr nackter Körper bebte und wand sich, die Brüste hoben und senkten sich wild, und Jan konnte ihr panisches Keuchen hören.
Dieses Keuchen war es, das ihn aus seiner Schockstarre riss und ihn die zweite Person im Raum realisieren ließ. Keinen Meter vom Bett entfernt stand ein langhaariger Mann, ungefähr eins achtzig groß, athletisch gebaut. Während Jan die Tür aufgebrochen hatte, musste er rasch seine Jeans übergestreift haben, sie war noch nicht zugeknöpft. Er starrte Jan ebenso erschrocken an wie dieser ihn.
»Dr. Forstner!«, keuchte er und nestelte hektisch an den Knöpfen seiner Jeans.
Jan brauchte noch einen weiteren Moment, bis er begriff, wen er vor sich hatte. Der Mann, der da vor ihm stand, war Mirko Davolic, sein Expatient, der Frauenschwarm, dem die Schwestern heimlich nachgesehen hatten. Der Mann, der da vor ihm stand, hatte gerade Carla vergewaltigt oder hatte es zumindest versucht.
Etwas in Jans Kopf schien zu explodieren. Mit wütendem Gebrüll schlug er Davolic mit der Faust ins Gesicht. Die Wucht riss den Kopf des Mannes zurück, und sein langes Haar flog auf, als wäre ihm ein
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