Dunkler Winter
Vielleicht.« Mehr schien er nicht zu wis sen und wandte sich wieder dem Schauspiel unter ihm zu. Ich musste zu ihm hin und ihn schütteln.
»Stein!«, rief ich ihm ins Ohr. Er wandte ärgerlich den Kopf. »Wie bricht man Stein? Stein, der zu hart für einen Hammer ist, zu groß für eine Spitzhacke?«
»Was?«
»Erinnerst du dich? Die Nacht auf dem Pass, wo der Frost die Steinblöcke sprengte. Hörtest du nicht den Knall vorhin?« Ich zeigte hinunter zur Brandung. »Es hörte sich an wie ein Fass, das auf ein Pflaster fällt und platzt.« Ich hatte keine Zeit für weitere Erklärungen. Ich konnte ihm nur die Antwort zurufen. »Sag ihnen, sie sollen Essig hinunter gießen!«
»Essig?« Er runzelte die Stirn. »Aber Essig wird das Feuer löschen…«
Er schien so schwer von Begriff, dass ich drauf und dran war, ihm eine Ohrfeige zu versetzen. »Ja! Und sie abkühlen. Plötzlich. Was geschieht, wenn du Stein bis zur Rotglut erhitzt und dann mit Wasser übergießt?«
Er blinzelte, zog die Brauen zusammen, dann erschien ein Licht in seinen Augen. Er wandte sich um und hielt Ausschau nach der Abschnittsleiterin, der wir zugeordnet waren. Sie stand zehn Schritte entfernt und dirigierte die von Novizinnen herbeigeschleppten Eimer mit Steinöl zu den Stellungen, wo sie über die flammenden Angreifer entleert werden sollten. Diszipliniert, entschlossen, un verzagt, Orden durch und durch. In diesem Augenblick löste sich ein zehn Schritte langes Stück der Quaderverkleidung aus der Mauer und polterte herab. Die Riesenskorpione schienen sich zu ducken, als die mächtigen Quader auf sie herabpolterten, aber sie hielten aus. Nun war der Mauerkern aus Bruchsteinen und Geröll frei gelegt, und wir erschraken, als die gewaltige Bastion unter unseren Füßen erzitterte wie ein lebendes Wesen. Vielleicht gibt es Leben in allem Gestein.
Der Angriff fraß sich weiter in die Mauer hinein. Sie war enorm dick, aber der Zeitpunkt ihres Zusammenbruchs war abzusehen, und dann würde der Sturm kommen. Gewiss, das Dunkel würde sich durch drei aufein anderfolgende Mauerringe fressen müssen, aber schließ lich würde es zum Kern durchstoßen. Es hatte die Mit tel dazu.
Silvus winkte, und kurz darauf erschien Schwester Winterridge. Ich schob mich näher, um mitzuhören.
»Es kann nicht schaden. Und es könnte sie aufhalten. Das Feuer bewirkt nichts.« Silvus zeigte hinunter, und Schwester Winterridge blickte hinab, wo die Steinskor pione, jetzt noch sieben, sich in die Festungsmauer fra ßen. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich kaum, aber ich merkte ihr eine gewisse Nervosität an, als sie sich zu ihrer Mitschwester wandte.
»Nichts sonst hält sie auf?«, fragte sie.
»Wir haben zwei mit Steinen aus dem Gleichgewicht gebracht, sodass sie über die Böschung ins Meer fielen.«
»Das wird nicht noch einmal gelingen. Die anderen hal ten Abstand zur Böschung. Und zwischen ihnen und der Zitadelle gibt es für sie kein Hindernis.«
»Ich kann nichts veranlassen… nicht ohne die Zustim mung der Priorin.«
»Dann müssen wir sie einholen. Wo ist sie?«
Die andere sah sich um, zögerte. »Sie sagte, dass sie kommen würde. Es ist aber schon über die Zeit.«
Die Mauer erbebte. Ein Spalt öffnete sich im Mauer werk unter mir und durchlief den ganzen Wehrgang. Noch zwanzig Minuten, dachte ich, und die Mauer ver wandelt sich in eine Schutthalde.
Priorin Merceda kam die Treppe herauf, gefolgt von ihrem Stab. Sie sah bleich und erschüttert aus. Ich be obachtete sie und machte mir Sorgen. Genauer gesagt, ich hatte Angst. Von Generälen wird erwartet, dass sie Ant worten haben, aber Merceda sah hilflos aus, als wüsste sie keine mehr. Das ängstigte mich mehr als alles, was ich bisher gesehen hatte.
Doch die Idee wurde abermals erläutert und die Priorin beugte sich zwischen den Zinnen hinaus, um zu sehen, wo die Hinterleiber der vielbeinigen Steinbrecher aus der Mauer ragten wie Schakale aus einem Kadaver. Sie wandte sich schaudernd um und nickte. Es dauerte eine gute Weile, bis Essigfässer aus dem unterirdischen Lager raum heraufgeschafft werden konnten. Unterdessen be obachteten wir die beharrliche Arbeit dieser ungewöhnlichen Belagerungsmaschinen und sahen, wie ganze Teile der Quaderverkleidung und wahre Kaskaden von Steinen aus der inneren Füllung herunterpolterten. Gleichzeitig wurden die Steinskorpione weiter von den Zinnen aus mit brennendem Öl Übergossen, um sie möglichst stark zu erhitzen. Eine quälende Wartezeit, die
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