Dunkler Zwilling
übermächtiger Geist gewesen war. Automatisch war daher in seiner Vorstellung der Raum gewachsen.
Max’ Blicke wanderten umher. Hallo Maurice, habe gerade erfahren, dass du hier geboren worden bist. Hier hat dich dein stolzer Papa auf dem Arm getragen und vielleicht mit dir hier an der Balkontür gestanden und dir den schönen Park gezeigt, den du einmal erben wirst. Wie oft hast du selbst hier gestanden? Woran hast du gedacht in den letzten Wochen deines Lebens? Was hat dich gequält?
Der Raum sah extrem aufgeräumt aus. Aufgeräumt oder ausgeräumt? Auf jeden Fall so, wie Max’ Zimmer noch nie ausgesehen hatte.
Was hast du hier eigentlich gemacht, Maurice?
Max’ Blick fiel auf einen großen Flachbildschirm an der Wand.
Aha, du hast da drüben im Bett gelegen und ins Glotzofon gestarrt .
Max trat an die blanke Schreibtischplatte heran. Auf dem Holz zeichnete sich ein heller Fleck ab. Bestimmt hatte hier einmal ein Laptop gestanden. Max setzte sich auf den Schreibtischstuhl und rollte ein wenig hin und her. An der Pinnwand über dem Schreibtisch hing ein kleines, bedrucktes Schild. Max erhob sich, beugte sich weit vor und entzifferte, was dort geschrieben stand.
»Hat Maurice das dort hingehängt?«, fragte Max.
Chiara stülpte die Unterlippe vor. »Wer sonst? So, wie er damals drauf war, sieht ihm das ähnlich.«
Max las laut vor: »Stirb erst, wenn du tot bist!« Fragend sah Max zu Chiara hinüber. »Was ist denn das für ein unlogischer Spruch?«
Chiara sah nachdenklich zum Fenster hinaus. »So unlogisch ist das gar nicht. Es gibt Leute, die sind schon ein paar Jahre vorher tot.«
Max begegnete Chiaras Blick. Etwas in diesem Zimmer drückte auf die Stimmung. Lag es daran, dass Maurice’ Anwesenheit hier noch zu spüren war? Nein, im Gegenteil. Das Zimmer wirkte so unbewohnt und unpersönlich wie ein Hotelzimmer. Wenigstens ein bisschen Leben in die Trostlosigkeit brachte das hohe Regal mit den bunten Buchrücken, das sich neben der Tür bis zur nächsten Wand erstreckte. Max trat näher heran und schüttelte den Kopf. » Kalle Blomquist, Pippi Langstrumpf, Emil und die Detektive . War das die Lektüre, mit der sich Maurice vor dem Schlafengehen beschäftigt hat?«
Chiara grinste. »Maurice hat nie gelesen. Das Regal hier steht schon seit ich mich erinnern kann. Hier sind die Kinderbuchklassiker mehr oder weniger dekomäßig untergebracht. Ich glaube, das Regal hat die Innenarchitektin vor Maurice’ Geburt so eingerichtet.«
»Wow, Innenarchitektin!«, kommentierte Max, woraufhin Chiara sich genötigt fühlte zu sagen: »Mein Zimmer habe ich selbst eingerichtet, und dort gibt es Bücher, die gelesen wurden! Bist du jetzt fertig mit dem Kapitel Maurice?«
Max nickte und verließ mit ihr den Raum. Die Art, wie sie die Tür hinter ihnen beiden zuzog, hatte etwas Endgültiges.
»Du willst nicht mehr, dass ich mich noch weiter mit Maurice beschäftige, nicht wahr?«, fragte Max.
Chiara sog schnaubend die Luft ein. »Richtig! Ich möchte, dass du endlich merkst, dass du Max bist und dass dieser Max zum Glück sehr wenig mit Maurice zu tun hat!«
Max fuhr auf: »Aber du selbst hast doch am stärksten darauf reagiert, wie ähnlich wir beide uns sind!«
»Nein, das hast du falsch verstanden. Ich war sehr verwundert darüber, wie jemand, der äußerlich wie Maurice wirkt, so ganz anders sein kann. So nett, so zurückhaltend, so ganz ohne blöde Sprüche. Selbst wenn du versucht hast, dich wie er zu stylen, hast du mir immer vorgeführt, wie die andere, die positive Version von Maurice hätte ausfallen können. Deshalb konnte ich nicht aufhören, dich anzuschauen und in deiner Nähe zu sein.«
Max gab immer noch nicht auf. »Aber du hast doch das Zwillingsfoto von uns zusammengebastelt und gepostet.«
Chiara machte eine abwehrende Geste. »Ich habe das nicht montiert, damit man sieht, wie ähnlich ihr euch seid, sondern wie unterschiedlich ihr seid bei aller scheinbaren Ähnlichkeit.«
»Das klingt ziemlich kompliziert«, kommentierte Max.
Chiara zog Max in ihr Zimmer, klappte ihr Laptop auf und zeigte ihm das Bild. »Bei der Vergrößerung müsstest du es erkennen. Hier, sieh doch, es ist ganz unmöglich, dass ihr Zwillinge seid. Sein Haaransatz ist gerade, du hast in der Mitte der Stirn so eine kleine Spitze. Seine Augen sind schmal, er hatte leichte Lupflider, bei dir ist das rund und glatt um die Augen. Seine Oberlippe ist schmal, deine geschwungen. Und dann der Gesichtsausdruck! Er sieht in
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