Dunkler Zwilling
einem Klo. Super!
Ich weiß, ich sehe das im Moment ein bisschen krass, aber ich habe gerade so eine angefressene Stimmung! Vielleicht hängt das auch mit heute Nachmittag zusammen. Es fing gut an. Ich bin mit Chiara zu ihr nach Hause, wir haben Spaghetti mit Tomatensoße gekocht und viel gequatscht. Warum musste ich auf die blöde Idee kommen, noch einmal in Maurice’ Zimmer zu wollen? Ich hätte merken müssen, dass das Chiara nicht recht war. Aber manchmal bin ich wie ein Maulesel. Etwas hat mich dazu gedrängt. Ich wusste selbst nicht, was, aber ich wollte es herausfinden. Bin ich jetzt schlauer? Ich habe mich in diesem Zimmer total fremd gefühlt und mich gefragt, ob es Maurice auch so ging? Wenn es dort damals auch schon so aussah, dann ist das ein Zimmer, das er schon längst verlassen hatte, bevor er weg war. Hatte er bereits seine Koffer gepackt, seine Zelte abgebrochen in diesem Leben und wollte sich davonmachen? Oder ging es um den Spruch, den er sich aufgehängt hat? Dass man nicht sterben soll, bevor man tot ist? Wollte er ein anderes Leben anfangen? Woanders? Eigentlich hatte er es doch saugut dort, wo er war. Aber warum mache ich mir diese Gedanken? Ich sollte aufhören, mich noch weiter mit Maurice zu beschäftigen. Das macht mich nur völlig depri. Chiara hat recht, ich sollte mich nicht um Maurice, sondern viel mehr um Maximillian kümmern.
Eben gerade fällt mir auf, dass Maurice ja so etwas wie die französische Variante von Moritz ist. Und ich wurde Maximillian genannt, Kurzform Max. Max und Moritz. Ist das Zufall, dass wir beide nach diesem Zweiergespann heißen?
Jetzt fange ich schon wieder an, dunkle Theorien zu entwickeln. Hör endlich auf damit, Max! Es ist Zufall! Du hast mit Maurice nichts zu tun. Und das ist auch besser so!
Es war schon ein ziemlicher Schock heute, als Chiara mir sagte, dass sie Maurice eigentlich gar nicht besonders mochte. Ich hatte immer gedacht, dass sie sehr an ihm hing. Muss man doch auch nach ihrer Reaktion damals, als ich die Blumen am Bahnsteig geklaut habe. Ich glaube, dass sie selbst nicht so richtig weiß, wie sie zu Maurice stehen soll. In einem Moment überwiegen ihre positiven Erinnerungen, im anderen die negativen.
Heute rückte sie plötzlich damit raus, dass Maurice voll der arrogante Macker gewesen wäre! So deutlich hat sie das noch nie gesagt. Es würde bedeuten, je mehr ich Maurice ähnele, desto weniger mag sie mich. Will ich das? Ich glaube, nicht nur mit mir, auch mit ihr ist was passiert in den Ferien. Da sehnt sie sich jahrelang danach, endlich mal ihren richtigen Vater kennenzulernen. Riskiert Zoff mit ihrer Mutter, um ein Treffen durchzusetzen, und muss dann erleben, dass es ein Reinfall auf der ganzen Linie ist. Sie hat erzählt, wie sie in Sizilien auf den staubigen Steinen unter einem Olivenbaum saß und sich nach ihrem Klavier in Monza gesehnt hat. Nie hätte sie so was von sich gedacht. Tja, Chiara, hätten sie dich unter dem Olivenbaum starten lassen, wäre es vielleicht umgekehrt!
Irgendwie muss ich mich ab heute auch neu sortieren. Also, neue Basics: Du bist Max, das Findelkind vom Klo! Mit Maurice hast du nicht das Geringste zu tun! Was mit Maurice passiert ist, geht dich nichts an!
Da fällt mir ein, ich habe Chiara gar nicht von der SMS erzählt, die von Annalenas Handy abgeschickt wurde. Wahrscheinlich würde sie dann nicht mehr an ihrer Selbstmordtheorie festhalten. Egal.
Also, was macht Max jetzt?
Anderer Haarschnitt?
Nee, keine Totalrenovierung! Kurz ist ja gar nicht so schlecht, aber vielleicht ein bisschen länger über den Ohren und Fransen in die Stirn. So ähnlich wie dieser Jake Bugg. Und tschüss mit dem gelackten Justin-Bieber-Look!
Max saß leicht vorgebeugt auf der Bettkante und sah nachdenklich in Richtung des kleinen Fensters über dem Schreibtisch. Die schwarzen Äste des großen, alten Kirschbaums zeichneten ein wirres Strichmuster in den wolkig grauen Winterhimmel. Ein Blick auf das Handy verriet, dass es noch gut zwei Stunden Zeit bis zum Abendessen waren. Entschlossen sprang Max aus dem Bett, seinem Lieblingsschreibplatz, und versteckte wie üblich das Tagebuch unter der Bettdecke. Er wusch sich schnell die Haare über dem Waschbecken im Bad und bearbeitete sie mit dem Föhn. Das Styling-Gel ließ er weg und zog die Spitzen in die Stirn und über die Ohren. Dann schüttelte er sich wie Schorsch. Die Haare suchten sich eine natürliche Position um seinen Kopf. Einige kleine Strähnen standen
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