Dunkler Zwilling
morgen!« Sie nannte einen Betrag, der für Max im Umfang eines Jahrestaschengeldes lag. »Bar oder mit Karte?« Zwei mandelförmig geschminkte Augen fixierten ihn herausfordernd.
Max schluckte und sah Chiara an. Die runzelte die Stirn, dann war sie mit zwei Sätzen an der Tür. Max überlegte gerade, ob es klug war, sich dem Fluchtversuch anzuschließen, wenn doch Schorsch als Pfand hier lag, als er Chiaras helle Stimme rufen hörte: »Onkel Ernst, kannst du mal kommen?«
Max sah verblüfft zu, wie der alte Köhler ein edel glänzendes Lederportemonnaie öffnete, in dem sich in verschiedenen Farben wohl sortiert die Scheine auffächerten. Er legte das Gewünschte auf den Tresen und ging wortlos wieder hinaus zum Auto.
»Er hat mir schon öfter mal ausgeholfen. Er ist eine gute Seele. Ich glaube, wir sind so was wie Familienersatz für ihn«, erklärte Chiara.
»Dann stehst du also mit noch mehr bei ihm in der Kreide?«, fragte Max misstrauisch.
Chiara kicherte. »Guck doch nicht so böse! Er bekommt alles schnell zurück. Das weiß er. Das ist doch jetzt wirklich kein Ding. Die paar Kröten!«
Max lächelte bitter. »Für dich vielleicht! Und warum nennst du den alten Köhler eigentlich Onkel Ernst?«
Chiara rollte die Augen. »Weil ich ihn kenne, seit ich nach Modertal gekommen bin. Da war ich vier. Er hat schon Haus und Garten versorgt, als ich noch gar nicht da war. Michelle, Maurice und ich haben immer Onkel Ernst zu ihm gesagt.
»Und er nennt dich Fräulein Plati? Wie passt das zusammen?«
Sie grinste. »Nur wenn Besuch in der Nähe ist, sonst sagt er Chiara. Was hast du gegen ihn?«
»Irgendwie ist er mir unheimlich. Aber seit heute bin ich ihm sehr dankbar. Ohne ihn hätten wir das mit Schorsch nicht so schnell geschafft.«
»Gut, werde ich ihm ausrichten!«, sagte Chiara und schob Max zur Tür hinaus.
Wenig später knieten Max und Chiara nebeneinander auf dem Tigerfell und betrachteten die vier Briefe, die Max auf dem Boden vor ihnen ausgebreitet hatte. Um sie ihr zu zeigen, hatte er vor Chiaras Augen das Tagebuch aus dem Tigerversteck gekramt.
Nachdenklich betrachtete Chiara die Briefbögen. »Es sieht aus, als seien die von verschiedenen Personen verfasst worden. Das Papier ist anders und auch die Wortwahl ist sehr unterschiedlich.«
Max wiegte den Kopf. »Aber im Prinzip ist es immer die gleiche Botschaft! Vielleicht ist es eine Person, die sich absichtlich verstellt, damit ich denke, es seien mehrere.«
Chiara kniff die Augen zusammen. »In welcher Reihenfolge hast du die Briefe bekommen?«
Max zog zwei zerknitterte Blätter heran. »Die beiden steckten in blauen Umschlägen und lagen am 25. und am 29. Dezember bei uns im Briefkasten. In jedem steht derselbe Satz. Meine Oma hat sie mir gebracht, weil außen Für Max draufstand.«
Chiara wendete die Papiere hin und her. Der Rand war ausgefranst, weil sie unsauber aus einem Spiralblock herausgerissen waren. »So was hat jeder Schüler«, stellte sie fest. »Und dieser hier hat eine Kinderschrift und ziemliche Probleme mit der Rechtschreibung!«
Max nickte bestätigend und las die Briefe noch einmal.
Hör auf damit Moriz zu sein sonz pasiert dir das Selbe.
Dann nahm er den nächsten und legte ihn vor Chiara hin. »Der lag in einem gefütterten weißen Umschlag am 03. Januar bei uns im Briefkasten. Außen stand in spitzer Schrift drauf: Für Maximilian Wirsing . So ähnlich schreibt meine Oma. Diesmal sind es Druckbuchstaben und es sieht so aus, als würde der Schreiber oder die Schreiberin sonst Schreibschrift schreiben und hätte versucht, seine Schrift zu verstellen.«
Chiara nickte. »Ich finde auch, es sieht aus wie von einem älteren Erwachsenen, und der hat keine Probleme mit der Orthografie.« Sie las vor:
Halt dich fern von den v. Bentheims, sonst passiert was!
»Hast du den Umschlag noch?«, wollte Chiara wissen.
Max schüttelte den Kopf. »Habe ich weggeschmissen. Aber ich erinnere mich noch, dass Maximillian nur mit einem ›l‹ geschrieben war.«
Max musterte Chiara von der Seite. Ihre Augen glitten Buchstabe für Buchstabe über den Text. Sie biss sich dabei auf die Unterlippe. Max beugte sich dicht neben ihr über das Papier und tat es ihr unbewusst gleich. Die Botschaft war mit einem schmierigen Kugelschreiber geschrieben worden. Auch die kleinen m’s und n’s innerhalb der Worte waren spitz ausgezogen wie Großbuchstaben. Die Buchstaben kippten in verschiedene Richtungen. Das schien kein geübter Schreiber gewesen
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