Dunkler Zwilling
es bekümmert. »Es war irgendwann in den Wochen vor seinem Tod. Er war in der Zeit so … anders.«
»Wie anders?«, fragte Max.
Chiara wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Manchmal ganz traurig und in sich gekehrt. Dann konnte man ihn überhaupt nicht ansprechen. Dann wieder kam er an und war so … so unglaublich lieb wie noch nie. Er fragte mich, ob ich Lust hätte mit ihm ins Kino zu gehen, oder er schenkte mir plötzlich seinen iPod, auf den er mir meine Lieblingsmusik geladen hatte. Dann wieder gab es Tage, da war er völlig aufgekratzt, absolut der Siegertyp und dementsprechend ekelhaft zu mir. Da hätte man meinen können, dass er was eingenommen hat. Aber das stritt er ab und rastete völlig aus, wenn ich ihm so was unterstellte.«
»Kannst du dich an einen Zeitpunkt erinnern, ab dem er sich so veränderte?«, fragte Max.
Chiara zuckte mit den Schultern. »Es war irgendwann im Frühjahr oder Anfang des Sommers 2011. Ich erinnere mich noch, wie ich ihn im Garten sitzen sah. Er starrte eine ganze Stunde lang vor sich auf den Weg und malte mit einem Stöckchen Striche in den Kies. Ich ging zu ihm und fragte, ob er Stress mit Annalena hat und ob ich mal mit ihr reden soll. Da fuhr er hoch und schrie mich an, dass ich ihn in Ruhe lassen soll. Er hätte andere Sorgen, aber ich mit meinem kleinen Zickenhirn könnte mir die Probleme der Welt nur mit lächerlichem Liebeskummer erklären.«
»Das war heftig!«, kommentierte Max.
Chiara nickte. »Ja! Und es traf mich auch völlig unerwartet. Am Tag vorher war alles besonders gut gelaufen zwischen uns. Wir hatten in meinem Zimmer gesessen, Tee getrunken und waren uns so richtig einig gewesen, dass Gero manchmal ein ziemliches Arschloch sein kann. Maurice hat mir erzählt, wie sehr ihm Gero damit auf die Nerven geht, dass er mal die Firma erben und deshalb unbedingt BWL studieren soll. Maurice hat es enorm gestunken, dass Gero wegen jeder schlechten Note in der Schule so einen Tanz veranstaltet und ihn zur Nachhilfe schickt, sobald er irgendwo eine Drei schreibt. Ich habe Maurice damals erzählt, wie blöd ich mich dabei fühle, dass Gero von mir immer verlangt, Maurice in der Schule zu helfen. Maurice hat sich auf die faule Haut gelegt, und ich habe ihn meine Hausaufgaben abschreiben lassen, weil ich ein schlechtes Gewissen bekam, wenn er Ärger in der Schule hatte. An dem Tag damals hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass Maurice mich versteht. Er entschuldigte sich dafür, dass er sich auf meine Kosten seine guten Noten hereinholt. Und dann am nächsten Tag im Garten war er plötzlich wie ausgewechselt.«
»Gab es in der Zeit denn irgendeinen Vorfall, der seinen Stimmungsumschwung erklären könnte? Etwas, das du vielleicht nicht unbedingt gleich damit in Zusammenhang gebracht hast?«, forschte Max weiter.
Chiara dachte sichtbar angestrengt nach. »Es gab etwas«, sagte sie dann plötzlich. »Es war an dem Tag, an dem wir uns so gut verstanden hatten. Wir waren in mein Zimmer gegangen, weil wir vorher einen Streit belauscht hatten. Einen Streit zwischen Gero und einer Frau. Sie hatten sich lautstark in der Wolle. Maurice und ich standen draußen im Flur und hörten zu. Plötzlich war der Streit zu Ende. Die Frau war so schnell aus Geros Arbeitszimmer herausgekommen, dass Maurice und ich gar nicht mehr in Deckung gehen konnten. Sie hatte uns mit so einem irren Blick angestarrt. Völlig außer sich war sie gewesen. Sie hatte auf Maurice gedeutet und geschrien: ›Und mit dem werde ich auch noch reden. Das können Sie mir nicht verbieten!‹ Dann war Gero ihr hinterher gekommen. Er hatte sie am Arm gepackt und getobt: ›Untersteh dich, du alte Hexe!‹ Die Frau hatte böse gelacht, sich losgerissen und war davongelaufen. Wir fragten Gero, was die Frau von ihm gewollt hatte. ›Geld, was sonst‹, hatte er gebrüllt. Dann knallte er die Tür zu. Das heißt, nein, erst noch schrie er Maurice an: ›Egal, was diese Hexe dir erzählt, glaub ihr kein Wort. Alles Lüge!‹ Gero verschwand also in seinem Zimmer. Maurice und ich standen draußen auf dem Flur und sahen uns an. Dann gingen wir in mein Zimmer und redeten über Gero. Dass er sich nicht wundern muss, wenn er mit den Leuten Ärger wegen Geld bekommt, weil er ja auch alles über Geld regelt und so.«
»Weißt du, wer die Frau war?«, fragte Max.
Chiara schüttelte den Kopf. »Ich hatte sie vorher noch nie gesehen und danach auch nicht mehr. Sie war alt, so etwa wie deine Oma. Graues, zu einem
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