Dunkler Zwilling
ziemlich unordentlichen Knoten hochgestecktes Haar, aus dem die Fransen heraushingen. Sie sah wirklich wie eine alte Wetterhexe aus.«
»Und in dem Streit mit ihr ging es um Geld. Das habt ihr gehört?«
Chiara stöhnte auf. »Es ist schon so lange her. Wir waren ja auch erst später dazugekommen. Maurice hatte vielleicht ein bisschen mehr gehört als ich, denn er stand bereits lauschend auf dem Flur, als ich kam. Er gab mir Zeichen, still zu sein und deutete auf die Tür. Da stellte ich mich neben ihn und hörte ebenfalls zu.«
»Und was hast du gehört?«
»Eigentlich nur zusammenhangloses Zeug.«
»Kannst du dich an einzelne Worte erinnern?«
Chiara starrte vor sich hin. »Ich kann mich nur erinnern, dass sie Gero mit irgendetwas gedroht hat, denn er schrie: ›Sie haben doch gar keine Beweise!‹ Und sie kicherte wirklich wie eine Hexe und rief: ›Seien Sie sich da mal nicht so sicher.‹ Und dann sagte sie so etwas in der Art, dass sie eine Schicksalsgöttin wäre. Ich dachte damals, dass die Alte sie wirklich nicht alle an der Waffel hat. Sie redeten so wild aufeinander ein, man konnte gar nicht alles verstehen. Nur Wortfetzen. ›Tod‹, sagte sie und ›höhere Gerechtigkeit‹. Und dann plötzlich schrie Gero sie an: ›Was hast du getan, du alte Hexe?‹ Und sie kicherte wieder. Ziemlich laut, weil sie da wahrscheinlich schon nah an der Tür stand, um rauszugehen. ›Das möchtest du jetzt gerne wissen‹, meckerte sie mit fürchterlicher Stimme. ›Knöchlein oder Fingerchen? Eigentlich weißt du doch, wie du das herausfinden kannst. Nur zu!‹ Daraufhin brüllte Gero wie ein verletzter Stier und wollte wohl auf sie los, aber sie entwischte durch die Tür. Er hinterher. Ja, so ungefähr war das. Aber wieso reden wir da jetzt eigentlich drüber?«
Max holte hörbar Luft. »Weil es vielleicht doch etwas gibt, was mit Maurice’ Tod in Verbindung stehen könnte. Vielleicht hatte dieser Streit ja etwas damit zu tun.«
Chiara schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Maurice und ich hatten uns eher über diese komische Alte amüsiert, die es da mit dem großen Gero von Bentheim aufnehmen wollte. Da war nichts, was Maurice deprimiert hätte. Maurice wurde ja auch erst am nächsten Tag so merkwürdig.«
»Knöchlein oder Fingerchen?«, flüsterte Max. »Woher kenne ich diesen Spruch?«
Chiara lächelte wehmütig. »Ganz einfach. Grimms Märchen. Hänsel und Gretel. Die Hexe kommt täglich an den Stall, in dem sie Hänsel eingesperrt hat. Sie will testen, ob er bald fett genug ist, damit sie ihn braten und essen kann. Weil sie schlecht sieht, muss er ihr seinen Finger durch das Gitter hinhalten. Doch Hänsel ist schlau, er steckt nur ein abgenagtes Knöchlein durch das Gitter und die Hexe findet, dass Hänsels Finger zu knochig und dünn ist.«
Max lachte versonnen auf. »Ja, jetzt weiß ich es wieder. So hat mir meine Oma das auch erzählt. Sie war eine große Märchenerzählerin. Aber was wollte diese alte Frau Gero mit diesem Spruch sagen? Er scheint ja verstanden zu haben, was sie damit meinte, sonst wäre er nicht so ausgerastet.«
Chiara zuckte mit den Schultern. »Es ist eine Andeutung auf eine Täuschung. Dass man jemandem durch eine Verwechslung etwas vormacht.«
Max nickte. »Und was kann das sein?«
»Ich weiß es nicht«, flüsterte Chiara.
Max kniff die Augen zusammen. »Aber es muss etwas mit Maurice zu tun gehabt haben, sonst hätte sie nicht angedroht, dass sie mit ihm auch noch reden wird. Was, wenn sie das am nächsten Tag tatsächlich getan hat?«
Chiara schüttelte den Kopf. »Was sollte so eine verrückte Alte mit Maurice zu reden gehabt haben? Schon gar nichts, das ihn in eine depressive Stimmung bringt und ihn in den Selbstmord treibt.«
»Und wenn sie etwas anderes gewusst hat? Wenn sie Maurice etwas verraten hat und er deshalb umgebracht wurde?«, spekulierte Max.
Chiara stöhnte. »Nicht schon wieder, Max! Es war Selbstmord! Warum auch immer.«
»Zu dem er per SMS bestellt wurde?«, konterte Max.
Chiara sah ihn verblüfft an und er berichtete ihr, was er von Annalena erfahren hatte.
Danach war Chiara sichtlich durcheinander. »Diese blöde Kuh? Warum rückt sie damit jetzt erst heraus?«
»Sie hatte Angst und macht sich Vorwürfe«, erklärte Max.
Chiara betrachtete ihn misstrauisch. »Du nimmst sie auch noch in Schutz? Glaubst du ihr das mit dem Handyklau etwa?«, fauchte sie.
Max zuckte mit den Schultern. »Warum denn nicht? Sie verliert doch ständig etwas.
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