Dunkler Zwilling
hockte sich flink auf die Fensterbank und sprang dann hinab. Er landete hart auf den Kissen und fing sich ab, indem er sich über die Schulter abrollte. Der Schnee auf der Haut wirkte angenehm kühl.
Max sprang auf und sah nach oben. Dort baumelten bereits die Beine der alten Frau Wirsing in der Luft. »Bist du da, Max?«, hörte er Andreas mit gedämpfter Stimme rufen. Noch bevor er antworten konnte, ertönte plötzlich ein berstender Knall und Funken und Rauch schlugen aus dem Fenster. Max wusste sofort, dass die Zimmertür nachgegeben hatte und das Feuer nun endgültig den Raum erobert hatte. »Papa!«, schrie er.
Im selben Augenblick stürzte seine Großmutter hinunter. Max versuchte noch, sie zu greifen, doch sie fiel mehr, als dass er sie hätte halten können und landete halb auf ihm und halb neben ihm auf dem hart gefrorenen Gartenboden. Sie schrie vor Schmerz gellend auf. Sonja beugte sich über sie und zog sie von Max hinunter. Er rappelte sich auf und starrte gebannt nach oben. Lodernde Flammen schlugen aus dem Fenster und dichter, schwarzer Rauch verhüllte die Sicht auf das Dach. Etwas stürzte polternd ein und ein Funkenregen ergoss sich in den Nachhimmel.
»Andreas!«, schrie Sonja schrill auf.
»Papa!«, schluchzte Max. »Papa!«
»Ich bin hier«, hörte er eine spröde Stimme in unmittelbarer Nähe. Max wandte sich wie in Zeitlupe um und starrte mit ungläubigem Blick in die Richtung, aus der sie gekommen war. Im flackernden Flammenlicht regte sich eine Gestalt in einem wilden Gewirr von Ästen auf dem Boden. Offensichtlich hatte Andreas versucht, in den Kirschbaum zu springen und war dann abgestürzt. Max war mit einem Schritt bei ihm und reichte ihm die Hand. Andreas richtete den Oberkörper auf und schüttelte den Kopf. »Warte, ich muss mich erst einmal sortieren. Die Schulter ist hin!« Er versuchte, sich hinzusetzen. »Das Bein auch«, stöhnte er. »Seid ihr alle heil?«
Max kniete sich neben Andreas in den Schnee und spürte nicht die feuchte Kälte, die durch den dünnen Stoff seines Schlafanzugs kroch. Er nickte. »Alle soweit heil. Ich dachte schon, du wärst …« Max schluchzte auf und die Tränen rannen ihm in Strömen über das Gesicht.
Andreas legte mit schmerzverzerrtem Gesicht seinen Arm um Max und zog den Kopf seines Jungen an die Brust. In der Ferne hörte man Martinshornsignale. Erste Nachbarn trafen ein und brachten Decken.
Max saß am Küchentisch und löffelte schweigsam eine Gemüsesuppe, die Renate Herold gekocht hatte. Sonja saß ihm gegenüber und brachte kaum einen Bissen hinunter. »Wie konnte das nur passieren? Was haben wir für ein Glück gehabt«, murmelte sie immer wieder zwischen den Löffeln vor sich hin.
Renate Herold, der man aufgrund ihrer blonden Haare und ihrer sportlichen Gestalt nicht ansah, dass sie die Sechzig bereits überschritten hatte, saß mit am Tisch. Ihr Teller war längst geleert. »Ja, Glück im Unglück habt ihr gehabt«, bestätigte sie. »Ihr könnt übrigens gerne bei uns bleiben, bis ihr was anderes gefunden habt. Unsere Kinder sind aus dem Haus. Die Zimmer sind frei.«
»Ich weiß gar nicht, wie ich euch danken soll, danke auch für die Kleider!«, hauchte Sonja. Ihre Miene war maskenhaft.
Renate Herold lächelte. »Ihr werdet bald mehr haben als vorher. Die Nachbarn bringen ständig was vorbei.«
Max dachte daran, wie in den frühen Morgenstunden plötzlich Jonas vor Herolds Tür gestanden und ihm eine Sporttasche mit Kleidern in die Hand gedrückt hatte. »Hier, wir haben ja ungefähr die gleiche Größe. Hab versucht, das Beste für dich zusammenzusortieren. Kommst du mit in die Schule?«
Erst da hatte Max gemerkt, wie erschöpft und müde er war. Er hatte sich in das ehemalige Jugendzimmer von Herolds Sohn zurückgezogen und bis vor Kurzem geschlafen.
Das Telefon läutete. Renate Herold nahm ab und reichte den Hörer dann an Sonja Wirsing weiter. Sonja redete selbst wenig, sondern bestätigte nur kurz mit »Ja« und »Oh« und sagte dann am Schluss: »Dann sieh mal zu.« Sie legte das Gerät mit langsamen Bewegungen beiseite und starrte zum Küchenfenster hinaus. Ihre Lippen zitterten und Tränen strömten über ihr Gesicht. Max und Renate Herold sahen einander an und warteten geduldig, bis sie von sich aus redete.
»Oma hat einen Oberschenkelhalsbruch«, sagte sie tonlos. »Sie wird gerade operiert. Die Ärzte meinen, sie wird es gut überstehen, sie ist ja sehr rüstig für ihr Alter. Andreas hat den Unterschenkel
Weitere Kostenlose Bücher