Dunkler Zwilling
wirklich noch nicht geöffnet worden.«
»Sag ich doch. Deine Oma ist eine ehrliche Haut«, kommentierte Chiara.
Max nickte. »Was zuerst?«
Chiara tippte auf den bereits geöffneten Umschlag. »Den zuerst!«
»Eigentlich liest man Briefe anderer Leute nicht!«, sagte Max und faltete das Papier auseinander. Ein Foto fiel heraus. Es zeigte zwei grauhaarige Frauen in Jeans und Gummistiefeln. Sie umfassten gemeinsam den Stab eines Protestplakates, das über ihren Köpfen verkündete: Lieber Kröten statt Immobilienhaie. Max grinste. »Meine Oma als Revoluzzer, guck mal!«
Chiara betrachtete das Bild und hielt es dann plötzlich näher an ihr Gesicht. »Das ist sie! Genau! Das ist sie!«
»Ja, meine Oma, wer sonst«, sagte Max.
»Nein, die andere Frau!«, stieß Chiara aufgeregt hervor. »Das ist die Frau, die damals bei Gero war und sich mit ihm gestritten hat und die damit gedroht hatte, Maurice etwas zu sagen!«
Max zog ihr das Bild aus der Hand und drehte es um. Mit der ihm bekannten Schulmädchenschrift hatte seine Großmutter vermerkt: Brigitte und ich. Mai 2005. Protestmarsch zur Klapperwiese.
»Das ist Brigitte Wiesner. Die Hebamme, die bei Maurice’ Geburt dabei war«, erklärte Max.
»Sie also war damals bei uns. Sie war die Hexe.« Aufgeregt forderte Chiara: »Los, lies den Brief vor, den sie deiner Oma geschrieben hat!«
Max strich das Papier glatt und las laut vor. Chiara drängte sich dicht an ihn und las mit den Augen mit.
Modertal, den 8. Juli 2011
Liebe Sieglinde,
vor einigen Wochen habe ich an Deinen Enkel Maximillian einen Brief verfasst, den er an seinem 18. Geburtstag öffnen soll und den ich Dir hier beilege. Wie sehr ist mir dieser Junge ans Herz gewachsen, und wie glücklich bin ich, dass er ausgerechnet bei Deiner Familie untergekommen ist! Etwas Besseres hätte ihm gar nicht passieren können! Anfangs war ich sehr erschrocken, als ich den kleinen Kerl bei Dir im Garten herumhopsen sah. Ich erkannte ihn auf den ersten Blick und ahnte, wer er war! Doch Du behaupte-test, dass der Junge das leibliche Kind von Sonja und Andreas sei. Wir kannten uns ja damals auch noch nicht so gut, und ich muss zu geben, ich suchte in erster Linie Deine Freundschaft, um Dein Vertrauen zu gewinnen und schließlich von Dir zu hören, was ich schon lange ahnte. Ich meinerseits verriet Dir nicht, welch schreckliches Geheimnis ich mit mir herumtrage.
Liebe Sieglinde, im Laufe der Jahre haben wir eine tiefe Freundschaft entwickelt, die mir sehr kostbar geworden ist. Dennoch könnte ich Dir das, was ich Dir hier in diesem Brief gestehe, niemals ins Gesicht sagen! Zu sehr schäme ich mich dafür. Ich schreibe es Dir in diesem Brief, den ich Dir mit der Bitte übergeben werde, ihn erst zu öffnen, wenn ich nicht mehr lebe.
Den Brief an Max übergib ihm bitte an seinem 18. Geburtstag oder zu dem Zeitpunkt, an dem er von seinen Eltern erfahren hat, dass er ihr Adoptivsohn ist, und wo er gefunden wurde. Ich hatte eigentlich vor, diese Briefe bei einem Notar zu hinterlegen. Aber durch einige Vorkommnisse in der letzten Zeit bin ich sehr misstrauisch geworden. Weiß ich denn, auf wessen Gehaltsliste dieser Notar steht? Insofern bist Du, meine liebe, verlässliche Freundin, für mich sicherer als jeder andere Ort.
Ich selbst bin leider in meinem Leben nicht immer so aufrichtig und rechtschaffen gewesen wie Du. Es gab eine schwierige Zeit, in der es mir familiär und finanziell sehr schlecht ging. Ich habe das nie jemandem erzählt, auch Dir nicht, weil ich mich noch heute zutiefst dafür schäme. Mein verstorbener Mann war ein Spieler und hatte unser gesamtes Vermögen und unser Haus beim Spiel verloren. Ich hatte davon lange nichts geahnt und stand nach seinem Selbstmord plötzlich vor dem Nichts. Ich saß auf einem Berg von Schulden, der inzwischen abgetragen ist, weil ich mich kaufen ließ.
Ich gestehe, im Jahr 1997 habe ich eine hohe Summe Geld dafür bekommen, ein Neugeborenes zu töten und verschwinden zu lassen. Ich hatte das Kissen bereits in der Hand, um es zu ersticken, doch ich konnte es nicht tun. Ich war Hebamme! So vielen Kindern habe ich das Leben geschenkt!
Trotz meiner haltlosen Situation widersprach dieser schreckliche Auftrag so sehr meinem Gewissen, dass ich heimlich eine andere Lösung wählte, und das Kind in der Universitätsklinik aussetzte. Damals gab es noch nicht diese Babyklappen, aber das Klinikum war ein sicherer Ort. Ich hielt mich in der Nähe auf (in einem Schwesternkittel fällt
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