Dunkler Zwilling
man da nicht auf) und wartete, bis der Kleine nach wenigen Minuten gefunden wurde.
Als der Fund dann durch alle Medien ging, entwickelten meine Auftraggeber einen Verdacht, doch den wies ich weit von mir, und es blieb ihnen nichts anderes übrig, als mir zu glauben. Ich weiß, dass mein Auftraggeber nach wie vor fürchtet, ich könnte ihn doch noch verraten und dass er mich lieber tot als lebendig sähe. Aber was macht das schon aus, wenn man im finalen Stadium krebskrank ist?
Lange habe ich überlegt, ob ich Dir alle Hintergründe und Beweise anvertraue. Aber warum soll ich Dein gutes Herz so schwer belasten? Auch habe ich Sorge, dass Maximillian durch dieses Wissen erneut in Lebensgefahr geraten könnte. Daher habe ich mich entschlossen, meinen Auftraggeber nicht zu verraten und alle Dinge, die damit in Zusammenhang stehen, selbst zu klären. Ich weiß, dass ich dadurch einen jungen Menschen mit einer schlimmen Nachricht konfrontieren muss, aber dieses Schicksal habe ich selbst verursacht. Was mein Auftraggeber nicht weiß, vielleicht aber ahnt, ist, in welchem Ausmaß ich ihn betrogen habe. Es war mir eine gewisse Genugtuung, ihn auf meine Weise seine Sünde büßen zu lassen. Damit soll es gut sein.
Es bleibt jetzt nur noch eine große Bitte! Halte Maximillian unbedingt davon ab, seine leiblichen Eltern suchen zu wollen, es wäre sein Unglück!
Ich wünsche Dir noch viele glückliche und gesunde Lebensjahre mit Deinen Kindern und Deinem Enkel Maximillian.
Alles Liebe, in tiefer Demut und Schuld
Brigitte
Max ließ das Blatt sinken. »Sie war es«, flüsterte er. »Sie also war es, die mich damals ausgesetzt hat. Sie wusste, wer meine Eltern waren, aber verrät es nicht.«
Chiara kämpfte mit den Tränen. »Was sind das für grausame Eltern, die von einer Hebamme verlangen, ein Kind zu töten?«, sagte sie mit belegter Stimme. »Nenn mir einen einzigen Grund, warum Eltern so was tun sollten. Ich verstehe das nicht!«
Max zuckte mit den Schultern. Es fiel ihm schwer zu reden, weil er das Gefühl hatte, eine eiskalte Hand habe sich um seinen Hals gelegt und drücke immer fester zu. »Vielleicht hab ich ihnen einfach nicht gefallen oder sie wollten eben keine Kinder.«
Chiara schüttelte vehement den Kopf. »Blödsinn! Sie hätten verhüten oder abtreiben können. Meinst du, es gibt wirklich Leute, die nach der Geburt ihr Baby sehen und sagen ›gefällt mir nicht‹ und dann eine Menge Geld dafür ausgeben, dass es getötet wird? Außerdem: Wie haben diese Leute dann erklärt, dass ihr Kind plötzlich weg war? Die Schwangerschaft der Frau muss doch bekannt gewesen sein.«
»Man liest doch öfter in der Zeitung, dass ein Neugeborenes irgendwo gefunden wird – tot oder lebendig. Viele dieser Mütter haben ihre Schwangerschaft verheimlicht oder sogar selbst nichts davon gewusst.«
»Woher bist du so gut informiert darüber?«
»Meine Oma sammelt seit Jahren Zeitungsartikel zu dem Thema. Neulich, als ich im Keller Kartoffeln holen sollte, habe ich den Stapel gefunden und durchgelesen, in der Hoffnung doch noch einen weiteren Hinweis zu mir zu finden.«
»Und? Hast du?«
»Nein. Eines ist jetzt auf jeden Fall klar. Von Zwillingen spricht die Wiesner nicht.«
Chiara nickte. »Und wer ihr Auftraggeber war, bleibt auch unklar. Gero jedenfalls kann es nicht gewesen sein, denn sein Sohn Maurice lebte schließlich und wurde nicht ausgesetzt.«
»Es sei denn, es waren doch zwei und er wollte den einen los werden.«
»Aus welchem Grund? Gero hat alles Geld der Welt, um Kinder aufzuziehen!«
Max zuckte mit den Schultern. »War ja nur so eine Idee. Ich bin ohnehin nicht scharf darauf, ihn zum Vater zu haben.«
Chiara nickte und deutete auf den verschlossenen Umschlag. »Vielleicht wird dadurch alles klarer. Mach mal auf.«
Max zerrte umständlich an den festen Kordeln, mit denen der Brief verschnürt war. Chiara fand im Nähkorb eine Schere und reichte sie ihm. Vorsichtig löste er die Schnüre um den dicken wattierten Umschlag. Er enthielt einen weiteren geschlossenen Briefumschlag mit der Aufschrift: Für Maximillian Friedhelm Wirsing, persönlich, vertraulich von Brigitte Wiesner . Außerdem lag noch ein zusammengefaltetes Blatt dabei. Eine fotokopierte Buchseite, wie Max feststellte. »Aus Max und Moritz«, erklärte er und legte das Blatt beiseite.
Chiara hielt plötzlich ein rotes Seidenband in der Hand. »War das auch in dem Umschlag? Es lag hier auf der Decke.«
Max zog ihr das Band aus der Hand und
Weitere Kostenlose Bücher