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Dunkles Indien

Dunkles Indien

Titel: Dunkles Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rudygard Kipling
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— zu entkommen.
    Ich schob den Leichnam weiter hinaus und sah, wie ihn der Treibsand in wenigen Sekunden verschluckte. Ich schauderte bei diesem gräßlichen Anblick. Betäubt und halb von Sinnen versuchte ich, das Notizbuch durchzulesen. Dabei schob sich ein vergilbter und beschmutzter Papierstreifen aus dem Einbandrücken, wo er offenbar versteckt gewesen, und fiel heraus, als ich umblättern wollte. Folgendes stand darauf: »Vier geradeaus vom Krähenplatz; drei links; vierzehn geradeaus; zwei links; drei rückwärts; neun geradeaus; zwei rechts; drei rückwärts; zwei links; vierzehn geradeaus; zwei links, sieben geradeaus, einer links, neun rückwärts; zwei rechts; sechs rückwärts; vier rechts; sieben rückwärts.« Das Papier war an den Ecken beschädigt und angebrannt; was die Schrift zu bedeuten hatte, konnte ich nicht verstehen. Ich setzte mich auf einen Sandhaufen und drehte den Papierstreifen hin und her, da bemerkte ich plötzlich, daß Gunga Daß hinter mir stand, mit glühenden Augen und die Hände ausgestreckt.
    »Haben Sie es gefunden?« keuchte er. »Wollen Sie mich nicht einen Blick hineinwerfen lassen? Ich schwöre, daß ich es Ihnen zurückgebe.«
    »Was soll ich gefunden haben? Was willst du mir zurückgeben?« fragte ich.
    »Das, was Sie da in Ihren Händen halten! Es wird uns beiden helfen.« – Gunga Daß streckte zitternd vor Aufregung seine langen vogelklauenartigen Krallen aus.
    »Ich habe es nie finden können«, fuhr er fort. »Er muß es an seinem Leib versteckt getragen haben. Deshalb hab ich ihn erschossen. Aber auch dann hab ich es nicht finden können.«
    Offenbar hatte Gunga Daß ganz vergessen, was er mir von einem Schuß aus dem Boot vorgelogen hatte. Ich hörte ihn ruhig an: die sittliche Empörung kommt einem gar leicht abhanden, wenn man mit lebenden Toten verkehrt!
    »Was redest du da für dummes Zeug zusammen? Was willst du, das ich dir geben soll?«
    »Das Stück Papier aus dem Notizbuch! Es wird uns beiden helfen. O du Narr du! Du Narr! Siehst du denn nicht, was es wert ist?! Entkommen können wir von hier!«
    Seine Stimme erhob sich bis zu wildem Gekreisch und er tanzte in höchster Aufregung vor mir herum. Ich muß gestehen, auch ich war tief erschüttert bei dem Gedanken an eine Möglichkeit zu entfliehen.
    »Willst du vielleicht behaupten, daß dieser Fetzen Papier uns retten soll?« fragte ich. »Was hat er zu bedeuten?«
    »Lies ihn laut vor«, schrie Gunga Daß. »Lies ihn vor! Ich bitte und beschwöre Sie, lesen Sie ihn laut vor!«
    Ich tat es. Gunga Daß lauschte verzückt und zog mit den Fingern unregelmäßige Linien in den Sand.
    »Sehen Sie! Hier! Die Länge des Flintenlaufs ohne Schaft ist das Längenmaß! Ich besitze den Flintenlauf! Vier Flintenläufe geradeaus vom Fleck, wo ich die Krähen zu fangen pflege – gradaus gemessen. Verstehen Sie jetzt? Dann drei nach links! Ich erinnere mich genau, wie der Mann sich abgearbeitet hat Nacht für Nacht. Dann: neun geradaus und so weiter. Geradaus: das heißt, immer direkt vorwärts über den Schwimmsand, nach Norden. Das hat er mir erklärt, bevor ich ihn erschoß.«
    »Aber wenn du alles gewußt hast, weshalb bist du nicht längst entflohen?«
    »Ich hab es eben nicht gewußt! Er sagte mir vor achtzehn Monaten, daß er es herausfinden wollte, und er hat Nacht für Nacht daran gearbeitet, sobald das Boot fort war. Er sagte, er würde bestimmt über den Schwimmsand hinweg entkommen können. Dann versprach er mir, wir wollten zusammen entfliehen, aber ich fürchtete, er werde mich im Stiche lassen, und deshalb schoß ich ihn tot, als er seinen Plan ausgearbeitet hatte. Außerdem ist es nicht ratsam, daß ein Mensch, der einmal hier war, entkommt – mich ausgenommen, denn ich bin ein Brahmane.«
    Die Hoffnung auf Entrinnen hatte in Gunga Daß die Erinnerung an seine Kaste wieder wachgerufen; er erhob sich, ging auf und ab und gestikulierte heftig mit den Händen. Allmählich brachte ich ihn soweit, daß er wenigstens in zusammenhängenden Sätzen sprach. Er schilderte mir, wie dieser Engländer Nacht für Nacht und Zoll für Zoll festen Grund unter dem Schwimmsand ausgeforscht habe; es sei nunmehr eine Leichtigkeit, innerhalb zwölf Metern Entfernung vom Flußufer um den linken Hufeisenschenkel herumzuwaten, ohne Gefahr zu laufen, im Sand zu versinken. Offenbar aber hatte sich der Mann doch nicht ganz klar ausgesprochen gehabt, bevor Gunga Daß ihn niederschoß.
    Außer mir vor Entzücken angesichts der

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