Dunkles Indien
Man stelle sich meine Freude vor, als ich, vorsichtig ans Flußufer kriechend, bemerkte, daß das höllische Boot nicht mehr da war! Wenige Schritte und die Freiheit lag vor mir!
Wenn ich bis zu der nächsten seichten Pfütze ging, die am Fuß des vorspringenden linken Hufeisenschenkels lag, so konnte ich quer hinüberwaten, um die Flanke des Kraters biegen und – der Weg ins Land war offen. Ohne auch nur einen Augenblick zu überlegen, marschierte ich flott über die Grasbüschel, wo Gunga Daß die Krähen gefangen hatte, und betrat den weichen weißen Sand. Doch schon beim ersten Schritt von den Grasbüscheln weg, sah ich, daß jede Hoffnung auf ein Entrinnen auch hier vergeblich war; denn kaum hatte ich den Fuß niedergesetzt, da fühlte ich ein Nachgeben der Sandschicht, und eine saugende Bewegung machte mein Bein bis zum Knie einsinken. Im Mondlicht schien es mir, als tanze die ganze Sandfläche auf und ab, wie in teuflischem Entzücken über den Zusammenbruch meiner Hoffnung. Mit Aufgebot aller meiner Kräfte arbeitete ich mich heraus und zu den Grasbüscheln zurück. Dort fiel ich, in Schweiß gebadet, vor Anstrengung und Schrecken auf mein Gesicht.
Die letzte Möglichkeit, aus dem Hufeisen zu entkommen, war mir durch den Schwimmsand unmöglich gemacht.
Wie lange ich so gelegen haben mag, weiß ich nicht. Geweckt wurde ich durch Gunga Daß' glucksendes boshaftes Gelächter: »Ich würde Ihnen raten, o Sie Schirmherr der Unterdrückten (der Schuft verhöhnte mich auf englisch), in Ihre Wohnung zurückzukehren. Es könnte Ihrer Gesundheit schaden, wenn Sie hier lange liegen blieben. Überdies würde man auf Sie schießen, wenn das Boot zurückkehrt.« – Er stand da, über mich gebeugt, im Dämmerlicht des Morgengrauens und gluckste und gurgelte in sich hinein vor Freude. Meine erste Regung war, den Kerl am Genick zu packen und in den Sand zu schleudern, aber ich beherrschte mich, stand auf und folgte ihm schweigend auf die Plattform vor den Höhlen.
Plötzlich fragte ich ihn – es waren eigentlich eher lautwerdende Gedanken als eine Frage –: »Gunga Daß, wozu hat man das Boot nötig, wenn es doch sowieso keinen Weg über das Wasser gibt?« — Ich erinnere mich, daß ich trotz meiner Niedergeschlagenheit immerwährend daran denken mußte, welch überflüssige Maßnahme die Bewachung des Ufers sei.
Gunga Daß lachte wieder und erwiderte: »Sie haben das Boot nur bei Tage hier. Und zwar aus dem Grunde, weil es einen Weg gibt. Aber ich hoffe trotzdem, daß wir Ihre Gesellschaft hier noch recht lange genießen werden. Wenn Sie erst einige Jahre hier zugebracht und die entsprechende Menge Krähen verzehrt haben werden, wird Ihnen der Aufenthalt hier ein Vergnügen sein.«
Stumpf und gebrochen stolperte ich zu meiner Höhle und sank in Schlaf. Eine Stunde mochte vergangen sein, da weckte mich ein durchdringender Schrei — der schrille ohrenzerreißende Schrei eines zu Tode verwundeten Pferdes. Wer so etwas nur einmal im Leben gehört hat, wird es nie mehr vergessen. Mit einiger Anstrengung kroch ich aus der Höhle ins Freie und sah Pornic, meinen alten armen Pornic, tot auf dem sandigen Boden liegen. Auf welche Weise sie ihn getötet haben, kann ich mir nicht erklären. Gunga Daß meinte, Pferdefleisch sei besser als Krähen, und möglichst viel davon hier zu haben, hieße die soziale Frage am besten lösen. »Wir bilden hier eine Republik, Mister Jukes«, sagte er, »und Sie haben gewissermaßen ein Anrecht auf einen beträchtlichen Teil des Tieres. Wenn Sie es wünschen, werden wir Ihnen außerdem ein Dankesvotum ausstellen. Wollen Sie, daß ich diesbezüglich einen Antrag stelle?«
Ja, in der Tat, wir waren eine Republik! Eine Republik von wilden Tieren, gefesselt an den Boden eines Abgrundes, um bis zum Tode zu kämpfen, zu schlafen, zu essen. Ich erhob mit keinem Wort Protest, setzte midi nieder, starrte auf das gräßliche Bild nieder, das sich mir bot. Schneller, als ich es hier niederschreibe, war Pornics Leib in Stücke zerrissen. Männer und Weiber schleppten die Fleischfetzen auf die Plattform und begannen ihr Morgenmahl zu bereiten. Gunga Daß kochte die für mich bestimmte Portion. Wieder befiel mich der fast unwiderstehliche Drang, mich auf den Sandwall zu stürzen; mit aller Macht mußte ich dagegen ankämpfen. Gunga Daß machte immer boshaftere Spaße, bis ich ihm drohte, ihn auf der Stelle zu erdrosseln, wenn er nicht sofort aufhöre. Das brachte ihn denn auch zum Schweigen, aber dieses
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