Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
entwürdigende Verhöre. Ein neues Leben sollte beginnen, ohne jene Willensanspannung, die man während der Untersuchungszeit für das Verhör immer aufbringen mußte. Sie empfanden eine tiefe Erleichterung angesichts des Bewußtseins, daß alles schon unwiderruflich entschieden war, man hatte sein Urteil bekommen und mußte sich nicht überlegen, was genau man dem Untersuchungsführer antworten sollte, mußte nicht um die Verwandten bangen, man mußte keine Lebenspläne machen, mußte nicht um ein Stück Brot kämpfen — man unterlag schon einem fremdem Befehl, konnte nichts mehr ändern, konnte nicht mehr abbiegen von diesen blinkenden Eisenbahnschienen, die einen langsam, aber stetig gen Norden führten.
Der Zug fuhr dem Winter entgegen. Jede Nacht war kälter als die vorangegangene, das fette grüne Laub der Pappeln hatte hier schon einen hellgelben Stich. Die Sonne schien schon nicht mehr so heiß und strahlend, als hätte das Laub der Ahorne, Pappeln, Birken und Espen ihre goldene Kraft in sich aufgenommen, aufgesaugt. Das Laub selbst verströmte jetzt Sonnenlicht. Die bleiche, blutarme Sonne aber wärmte nicht einmal mehr den Waggon und verbarg sich den größeren Teil des Tages hinter lauen graublauen Regenwölkchen, die noch nicht nach Schnee rochen. Doch auch der Schnee war nicht mehr weit.
Das Durchgangslager war eine weitere Etappe in den Norden. Die Meeresbucht empfing sie mit einem leichten Schneetreiben. Der Schnee blieb noch nicht liegen — der Wind fegte ihn von den hartgefrorenen gelben Hängen in Gruben mit trübem, schmutzigen Wasser. Das Schneegestöber war durchscheinend. Der Schnee fiel licht und glich einem Fischernetz aus weißen Fäden, das über die Stadt geworfen wird. Über dem Meer war der Schnee gar nicht zu sehen — dunkelgrüne bemähnte Wellen schlugen langsam gegen den grünbewachsenen glitschigen Stein. Der Dampfer lag auf der Reede und wirkte von oben spielzeughaft, und selbst als man sie mit dem Kutter direkt an die Bordwand brachte und sie einer nach dem anderen an Deck gingen, um sogleich auseinanderzulaufen und in den Schächten des Laderaums zu verschwinden, war der Dampfer unerwartet klein, zu viel Wasser umgab ihn.
Nach fünf Tagen wurden sie am strengen und düsteren Tajga-Ufer ausgeschifft, und Lastwagen verteilten sie auf jene Orte, wo sie leben sollten — und überleben.
Die gesunde Landluft hatten sie am anderen Ufer des Meeres gelassen. Hier umgab sie die von den Ausdünstungen der Sümpfe getränkte dünne Luft der Tajga. Die Berge waren von einer Sumpfschicht bedeckt, und nur die Gipfel der unbewaldeten Kuppen funkelten, nackter Kalk, von Stürmen und Winden poliert. Der Fuß versank in morastigem Moos, und kaum einen Sommertag blieben die Füße trocken. Im Winter erstarrte alles. Berge, Flüsse und Sümpfe erschienen im Winter als ein einziges Wesen, unheildrohend und feindselig.
Im Sommer war die Luft für Herzkranke zu drückend, im Winter unerträglich. Bei starken Frösten atmeten die Menschen stockend. Niemand rannte hier, höchstens die allerjüngsten, und auch die nicht richtig, sondern irgendwie hüpfend.
Wolken von Mücken klebten einem im Gesicht — ohne Netz konnte man keinen Schritt tun. Bei der Arbeit benahm einem das Netz den Atem, störte beim Atmen. Hochklappen aber konnte man es nicht wegen der Mücken.
Man arbeitete damals sechzehn Stunden am Tag, auch die Normen waren auf sechzehn Stunden zugeschnitten. Wenn man rechnet, daß Aufstehen, Frühstück, das Ausrükken zur Arbeit und der Fußweg zur Arbeitsstelle mindestens anderthalb Stunden, das Mittagessen eine und das Abendessen zusammen mit dem Abendappell anderthalb Stunden dauerten, dann blieben nach der schweren physischen Arbeit im Freien für den Schlaf nur vier Stunden. Der Mensch schlief in dem Moment ein, wo er aufhörte, sich zu bewegen, er brachte es fertig, im Laufen oder Gehen zu schlafen. Der Schlafmangel kostete mehr Kraft als der Hunger. Bei Nichterfüllung der Norm drohte die Strafration — dreihundert Gramm Brot am Tag, keine Wassersuppe.
Mit der ersten Illusion war es schnell vorbei. Das war die Illusion von der Arbeit, eben jener Arbeit, von der, nach Vorschrift der Lagerstatuten, eine Inschrift am Tor zu allen Lagerabteilungen sagt: »Die Arbeit ist eine Sache der Ehre, eine Sache des Ruhmes, der Tapferkeit und des Heldentums«. Doch das Lager konnte einen nur den Haß auf die Arbeit und den Ekel vor ihr lehren und tat das auch.
Einmal im Monat fuhr der
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