Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
geholt.
»Hej, du, Iwan Iwanowitsch, putz und füll die Lampe«, verfügte Fedja. »Und nachts legst du Holz in den Ofen nach. Und morgens raus mit dem Kübel. Der Barackendienst zeigt dir, wo du’s ausgießt...«
Platonow schwieg ergeben.
»Dafür«, erklärte Fedja, »bekommst du ein Schälchen Suppe. Ich esse ja sowieso keine Brühe. Geh und schlaf.«
Platonow legte sich auf den alten Platz. Die Arbeiter schliefen fast alle zu zweit oder dritt zusammengerollt — dann war es wärmer.
»Ach, langweilig, die Nächte sind lang«, sagte Fedja. »Wenn wenigstens irgend jemand einen Roman stanzen würde. In ›Kossoj‹, da hatte ich...«
»Fedja, he, Fedja, und den da, den Neuen... Willst du ihn nicht probieren?«
»Du sagst es«, Fedja belebte sich. »Weckt ihn.«
Sie weckten Platonow.
»Hör mal«, sagte Fedja und lächelte beinahe schmeichlerisch, »ich hab mich da ein bißchen ereifert.«
»Macht nichts«, preßte Platonow durch die Zähne.
»Hör zu, kannst du Romane stanzen?«
Ein Feuer blitzte in Platonows trüben Augen auf. Und ob er konnte. Die gesamte Zelle im Untersuchungsgefängnis hatte dem »Grafen Dracula« in seiner Wiedergabe gelauscht. Aber dort saßen Menschen. Und hier? Sich zum Hofnarren beim Herzog von Mailand zu machen, den man für einen guten Witz verköstigt und für einen schlechten schlägt? Die Sache hat ja noch eine andere Seite. Er wird sie mit wirklicher Literatur bekanntmachen. Er wird Aufklärer sein. Er wird in ihnen das Interesse am künstlerischen Wort wecken, wird auch hier, ganz unten, seine Aufgabe, seine Pflicht erfüllen. Aus alter Gewohnheit wollte sich Platonow nicht sagen, daß er einfach zu essen, ein zusätzliches Süppchen nicht fürs Leeren des Nachttopfs bekommen wird, sondern für eine andere, vornehmere Arbeit. Vornehmer? Das ist trotz allem näher am Kraulen der schmutzigen Fersen des Ganoven als an Aufklärung. Doch der Hunger, die Kälte, die Schläge...
Fedja wartete, angespannt lächelnd, auf Antwort.
»K-kann ich«, sagte Platonow und lächelte zum ersten Mal an diesem schweren Tag. »Ich kann stanzen.«
»Ach, mein Bester!« Fedja kam in Stimmung. »Komm, steig hier hoch. Nimm dir ein Stück Brot. Was Besseres kriegst du dann morgen. Hier hast du Tabak.«
Platonow, der eine Woche lang nicht geraucht hatte, zog mit schmerzlichem Genuß an der Machorkakippe.
»Und wie heißt du?«
»Andrej«, sagte Platonow.
»Na dann, Andrej, also was Anständiges, Gepfeffertes. Wie der ›Graf von Monte Christo‹. Nicht über Traktoren.«
»Vielleicht ›Die Elenden‹?«, schlug Platonow vor.
»Ist das über Jean Valjean? Das haben sie mir in ›Kossoj‹ gestanzt.«
»Dann den ›Klub der Herzbuben‹ oder ›Der Vampir‹?«
»Das, das. Die Buben. Still da, Idioten...«
Platonow räusperte sich.
»Im Jahre achtzehnhundertdreiundneunzig wurde in der Stadt Sankt Petersburg ein geheimnisvolles Verbrechen begangen...«
Es wurde schon hell, als Platonow endgültig am Ende seiner Kräfte war.
»Damit endet der erste Teil«, sagte er.
»Alle Achtung«, sagte Fedja. »Wie der sie da... Leg dich hier zu uns. Viel Schlaf kriegst du nicht, es dämmert schon. Dann schläfst du bei der Arbeit. Sammel Kräfte für den Abend...«
Platonow schlief schon.
Sie wurden zur Arbeit geführt. Ein langer Kerl vom Dorf, der »die Buben« in der Nacht verschlafen hatte, stieß Platonow an der Tür böse an.
»He, Dreckskerl, paß auf, wo du hintrittst.«
Gleich wurde ihm etwas ins Ohr geflüstert.
Sie waren beim Antreten, als der lange Kerl zu Platonow kam.
»Sag’s nicht Fedja, daß ich dich geschlagen habe. Ich wußte ja nicht, Freund, daß du ein Romanist bist.«
»Ich sag’s nicht«, antwortete Platonow.
1954
Der tatarische Mullah und die frische Luft
Die Hitze in der Gefängniszelle war so groß, daß keine einzige Fliege zu sehen war. Die riesigen, eisenvergitterten Fenster standen sperrangelweit offen, doch das brachte keine Erleichterung — der glühende Asphalt des Hofs schickte heiße Luftwellen nach oben, und in der Zelle war es sogar kühler als draußen. Alle Kleider waren abgeworfen, und etwa hundert nackte Körper, schwere feuchte Hitze ausdünstend und schweißüberströmt, warfen sich auf dem Boden hin und her — auf den Pritschen war es zu heiß. Zu den Kommandantenkontrollen traten die Häftlinge nur in Unterhosen an, eine ganze Stunde blieben sie beim Austreten in den Klosetts und ließen sich endlos mit kaltem Wasser aus dem Waschbecken
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