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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Lagerpostbote die angesammelte Post zur Zensur. Briefe vom Festland und aufs Festland gingen ein halbes Jahr, sofern sie überhaupt ankamen. Pakete wurden nur denen ausgehändigt, die die Norm erfüllten, die übrigen wurden konfisziert. All das trug – mitnichten – den Charakter der Willkür. Dazu wurden Befehle verlesen, in besonders wichtigen Fällen hatten ausnahmslos alle zu unterschreiben. Das war nicht die wüste Phantasie irgendeines degenerierten Chefs, das war ein Befehl der obersten Leitung.
    Doch selbst wenn jemand seine Pakete auch bekam – man konnte irgendeinem Erzieher die Hälfte versprechen und die andere Hälfte immerhin in Empfang nehmen –, so konnte man so ein Paket nirgendwo aufbewahren. In der Baracke warteten längst die Ganoven, um es dir vor aller Augen wegzunehmen und mit ihren Wanetschkas und Senetschkas zu teilen. Ein Paket mußte man entweder sofort verzehren oder verkaufen. An Käufern mangelte es nicht — die Vorarbeiter, die Chefs, die Ärzte.
    Es gab noch eine dritte, die verbreitetste Lösung. Viele gaben ihre Pakete zur Aufbewahrung an Bekannte, die im Gefängnis oder Lager mit einer Arbeit oder Funktion betraut waren, wo sie sie wegschließen und verstecken konnten. Oder sie gaben sie jemandem von den »Freien«. In beiden Fällen bestand immer ein Risiko – niemand glaubte an die Gewissenhaftigkeit der Verwahrer –, doch das war die einzige Möglichkeit, das Erhaltene in Sicherheit zu bringen.
    Geld wurde gar nicht gezahlt. Nicht eine Kopeke. Bezahlt wurden nur die besten Brigaden, und auch sie mit einem Spottlohn, der ihnen keine ernsthafte Hilfe bieten konnte. Doch in vielen Brigaden machten es die Brigadiere so: Die Produktion der Brigade wurde zwei, drei Personen gutgeschrieben, die die Norm damit übererfüllten, und dafür bekamen sie eine Geldprämie. Die anderen zwanzig, dreißig Personen in der Brigade bekamen die Strafration. Das war eine scharfsinnige Entscheidung. Wäre der Lohn auf alle gleichmäßig verteilt worden, hätte niemand eine Kopeke gehabt. So aber erhielten ihn zwei, drei Personen, ganz zufällig ausgewählte, oft sogar ohne daß sich der Brigadier an der Erstellung der Liste beteiligte.
    Alle wußten, daß die Normen nicht zu erfüllen waren, daß es keinen Lohn gab und geben würde, und trotzdem liefen alle zum Vorarbeiter, fragten nach der Leistung, paßten den Kassierer ab, holten sich Auskünfte im Kontor.
    Was war das? War das der Wunsch, sich unbedingt als unermüdlicher Arbeiter auszugeben, den eigenen Ruf in den Augen der Leitung zu heben, oder war das einfach eine psychische Störung aufgrund der Mangelernährung? Wohl eher letzteres.
    Das helle, saubere, warme Untersuchungsgefängnis, vor so kurzem und so unendlich langem verlassen, erschien allen, wirklich allen als der beste Ort auf der Welt. Alle im Gefängnis erlittenen Kränkungen waren vergessen, und alle dachten mit Begeisterung daran, wie sie die Vorträge wirklicher Gelehrter und die Berichte erfahrener Leute gehört, wie sie Bücher gelesen, wie sie geschlafen und sich satt gegessen haben, in ein wunderbares Dampfbad gingen, wie sie Päckchen ihrer Verwandten bekamen, wie sie spürten, die Familie ist gleich hier, nebenan, hinter dem doppelten Eisentor, wie sie frei gesprochen haben, worüber sie wollten (im Lager gab es dafür eine zusätzliche Haftstrafe), ohne Spione oder Aufseher zu fürchten. Das Untersuchungsgefängnis erschien ihnen freier und vertrauter als das eigene Haus, und so mancher sagte, wenn er auf dem Krankenbett ins Träumen geriet, auch wenn er nicht mehr lange zu leben hatte: »Natürlich möchte ich gern von hier wegfahren und meine Familie sehen. Aber noch lieber wäre ich wieder im Untersuchungsgefängnis — dort war es noch besser und interessanter als zu Hause. Und heute würde ich allen Neuen erzählen, was die ›frische Luft‹ bedeutet.«
    Wenn man all dem noch den Skorbut hinzufügt, an dem beinahe alle litten und der sich, wie zu Berings Zeiten, zu einer schrecklichen und gefährlichen Epidemie auswuchs, die Tausende Leben kostete; und die Ruhr, denn wir aßen, was uns unterkam, um nur den schmerzenden Magen zu füllen, und sammelten Küchenabfälle von fliegenübersäten Müllhaufen; die Pellagra, diese Krankheit der Armen, eine Auszehrung, in deren Folge sich die Haut an Handflächen und Fußsohlen ablöst wie ein Handschuh und sich am ganzen Körper wie ein großer runder, fingerabdruckähnlicher Fladen schuppt, und schließlich die

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