Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
berühmte Ernährungsdystrophie — die Krankheit der Hungernden, die erst nach der Leningrader Blockade bei ihrem richtigen Namen genannt wurde. Bis dahin trug sie verschiedene Bezeichnungen: RFI — die geheimnisvollen Buchstaben in den Krankenakten, übersetzt als extreme physische Auszehrung oder, häufiger, Polyavitaminose, eine wunderschöne lateinische Bezeichnung, die vom Mangel an einigen Vitaminen im menschlichen Organismus spricht und die Ärzte beruhigt, die eine bequeme und lateinische Formel gefunden haben zur Bezeichnung immer desselben — des Hungers.
Wenn man an die unheizbaren, feuchten Baracken denkt, wo in allen Ritzen innen dickes Eis gefror, als hätte in der Ecken der Baracke eine riesige Stearinkerze getropft... An die schlechte Kleidung und die Hungerration, die Erfrierungen — und Erfrierungen sind ja eine ewige Pein, selbst wenn man keine Amputationen vornimmt. Wenn man sich vorstellt, wieviel Grippe, Lungenentzündungen, alle möglichen Erkältungen und Tuberkulose es in diesen sumpfigen, für Herzkranke schädlichen Bergen geben mußte und gab. Wenn man sich das epidemische Auftreten von Gliederabhackern und Selbstverstümmlern ins Gedächtnis ruft. Wenn man auch die gewaltige moralische Gedrücktheit bedenkt und das Fehlen jeder Hoffnung, dann sieht man leicht, um wieviel gefährlicher als das Gefängnis die frische Luft der Gesundheit des Menschen war.
Darum ist es müßig, mit Dostojewskij über die Vorzüge der »Arbeit« in der
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gegenüber dem Müßiggang im Gefängnis und den Vorteilen der »frischen Luft« zu polemisieren. Dostojewskijs Zeit war eine andere, und die
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hatte damals jene Höhen noch nicht erreicht, von denen hier berichtet wird. Es ist schwer, sich im voraus eine richtige Vorstellung davon zu machen, denn alles ist dort zu ungewöhnlich und unwahrscheinlich, und das arme menschliche Hirn ist einfach nicht imstande, sich konkrete Bilder zu machen von diesem Leben, von dem er doch eine trübe, vage Vorstellung hatte — unser Bekannter aus dem Gefängnis, der tatarische Mullah.
1955
Der erste Tod
Viele menschliche Tode habe ich im Norden gesehen — wohl zu viele sogar für einen einzigen Menschen, doch der erste Tod, dessen Zeuge ich war, hat sich mir am deutlichsten eingeprägt.
In jenem Winter mußten wir in der Nachtschicht arbeiten. Wir sahen am schwarzen Himmel den kleinen hellgrauen Mond, umgeben von einem schillernden Nimbus, der bei starken Frösten erglühte. Die Sonne sahen wir überhaupt nicht — in die Baracken (nicht nach Hause, als Zuhause bezeichnete sie niemand) kamen wir im Dunkeln zurück und verließen sie auch im Dunkeln. Übrigens zeigte sich die Sonne für so kurze Zeit, daß sie es nicht einmal schaffte, die Erde durch den dichten weißen Frostnebelschleier zu erkennen. Wo die Sonne stand, konnten wir nur mutmaßen — sie spendete weder Licht noch Wärme.
Die Weg zum Abbauort war weit, zwei, drei Kilometer, und er lag zwischen zwei gewaltigen, drei Klafter hohen Schneewällen; im diesjährigen Winter gab es große Verwehungen, und nach jedem Schneesturm wurde das Bergwerk freigelegt. Tausende von Leuten rückten mit Schaufeln aus, um die Straße zu räumen und den Fahrzeugen die Durchfahrt zu ermöglichen. Alle, die mit der Räumung des Wegs beschäftigt waren, wurden von Begleitposten im Schichtdienst, mit Hunden bewacht und rund um die Uhr bei der Arbeit gehalten, ohne sich aufwärmen oder im Warmen essen zu dürfen. Mit Pferden wurden angefrorene Brotrationen gebracht, manchmal, wenn sich die Arbeit hinzog, auch Konserven, je eine Büchse für zwei Personen. Dieselben Pferde brachten Kranke und Geschwächte ins Lager zurück. Erst wenn die Arbeit getan war, wurden die Menschen entlassen, damit sie sich ausschlafen und wieder in den Frost an ihre »eigentliche« Arbeit gehen konnten. Damals machte ich eine erstaunliche Feststellung — hart und quälend schwer sind bei einer solchen Arbeit nur die ersten sechs, sieben Stunden. Danach verliert man das Zeitgefühl und kümmert sich unbewußt nur darum, nicht zu erfrieren: man tritt auf der Stelle und schwenkt die Schaufel, ohne an irgend etwas zu denken, ohne auf etwas zu hoffen.
Das Ende dieser Arbeit ist immer eine Überraschung, ein plötzliches Glück, auf das man anscheinend auch nicht im entferntesten zu zählen gewagt hat. Alle sind fröhlich und laut, und eine Zeitlang scheint es weder Hunger noch tödliche Müdigkeit zu geben. Eilig angetreten, laufen alle
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