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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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fröhlich »nach Hause«. Und zu unseren beiden Seiten erheben sich die Wälle des riesigen Schneegrabens, Schneewälle, die uns abschneiden von der ganzen Welt.
    Der letzte Schneesturm war lange vorbei, und der lokkere Schnee hatte sich gesetzt und verfestigt und erschien noch mächtiger und härter. Man konnte auf dem Kamm des Walls entlanglaufen, ohne zu versinken. Die beiden Schneewälle wurden an mehreren Stellen von kreuzenden Wegen durchschnitten.
    Gegen zwei Uhr nachts kamen wir zum Mittagessen und erfüllten die Baracke mit dem Lärm von Durchgefrorenen, mit Schaufelgeklapper und den lauten Stimmen von Leuten, die von draußen kommen, Stimmen, die sich erst allmählich beruhigen und dämpfen und zur gewöhnlichen menschlichen Redeweise zurückkehren. Nachts gab es das Essen immer in der Baracke und nicht in der frostigen Kantine mit den eingeschlagenen Scheiben, der Kantine, die alle haßten. Nach dem Essen steckte sich, wer Machorka hatte, eine Papirossa an, und wer keine hatte, dem gaben die Kameraden etwas ab, kurz, es war so, daß jeder eine »Lunge voll« bekam.
    Unser Brigadier Kolja Andrejew, ehemaliger Direktor einer Maschinen-Traktoren-Station und heute Häftling, zu zehn Jahren verurteilt nach dem modischen Artikel 58, lief der Brigade immer voraus und immer in schnellem Tempo. Unsere Brigade war unbegleitet. Begleitposten waren in jenen Zeiten knapp — damit erklärte sich auch das Vertrauen der Leitung. Allerdings spielte das Bewußtsein der eigenen Besonderheit, des Unbegleitetseins für viele durchaus eine Rolle, wie naiv das auch war. Der unbegleitete Arbeitsweg gefiel allen ernstlich und war Gegenstand des Stolzes und der Prahlerei. Die Brigade arbeitete auch tatsächlich besser als später, als genug Begleitpersonal vorhanden und die Brigade Andrejew in ihren Rechten allen anderen gleichgestellt war.
    Heute Nacht führte uns Andrejew einen neuen Weg — nicht unten entlang, sondern direkt über den Kamm des Schneewalls. Wir sahen die blinkenden goldenen Lichter des Bergwerks, das dunkle Massiv des Waldes links und die mit dem Himmel verschmelzenden fernen Kegel der Berge. Zum ersten Mal sahen wir unsere Wohnstätte nachts aus der Ferne.
    An der Kreuzung angekommen, machte Andrejew plötzlich eine scharfe Wendung nach rechts und lief direkt durch den Schnee nach unten. Ihm nach, ergeben seinen merkwürdigen Bewegungen folgend, stürzte eine Schar von Leuten, mit Brechstangen, Hacken und Schaufeln klappernd; man ließ das Werkzeug niemals bei der Arbeit, dort wurde es gestohlen, und für den Verlust des Werkzeugs drohte eine Strafe.
    Zwei Schritt von der Wegkreuzung entfernt stand ein Mann in Militäruniform. Er war ohne Mütze, seine kurzen dunklen Haare waren zerzaust, voller Schnee, sein Mantel stand offen. Ein Stück weiter, tief in den Schnee geführt und vor einen leichten Korbschlitten gespannt, stand ein Pferd.
    Zu den Füßen dieses Mannes lag rücklings eine Frau. Ihr kurzer Pelz war zurückgeschlagen, das bunte Kleid zerknüllt. Neben ihrem Kopf lag ein zerknitterter schwarzer Schal. Der Schal war in den Schnee getreten, ebenso die hellen Haare der Frau, die im Mondlicht fast weiß wirkten. Die magere Kehle war entblößt, und am Hals traten rechts und links dunkle ovale Flecken hervor. Das Gesicht war weiß, vollkommen bleich, und bei näherem Hinschauen erkannte ich Anna Pawlowna, die Sekretärin unseres Bergwerkchefs.
    Wir alle kannten sie gut vom Ansehen her — es gab im Bergwerk sehr wenige Frauen. Vor sechs Monaten etwa, im Sommer, war sie abends an unserer Brigade vorbeigegangen, und die begeisterten Blicke der Häftlinge hatten ihre schmächtige Gestalt begleitet. Sie lächelte uns zu und zeigte mit der Hand auf die Sonne, die schon schwer wurde und sich zum Untergang neigte.
    »Bald schon, Jungs, bald!«, rief sie.
    Genauso wie die Lagerpferde, dachten auch wir den ganzen Arbeitstag nur an den Moment, wo er zu Ende wäre. Und daß unsere schlichten Gedanken so gut verstanden wurden, noch dazu von einer, nach unseren damaligen Begriffen, so schönen Frau, rührte uns. Unsere Brigade liebte Anna Pawlowna.
    Jetzt lag sie tot vor uns, erdrosselt von den Fingern des Mannes in Militäruniform, der sich verwirrt und wild nach allen Seiten umsah. Ihn kannte ich wesentlich besser. Das war Schtemenko, der Untersuchungsführer unseres Bergwerks, der vielen Gefangenen »ein Verfahren angehängt« hatte. Er verhörte unermüdlich und heuerte gegen Machorka oder eine Schüssel Suppe

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