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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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ist ein so zählebiges Geschöpf wie der Mensch. Ein Pferd erträgt nicht einen Wintermonat des hiesigen Lebens im kalten Stall bei vielstündiger schwerer Arbeit im Frost. Es sei denn, es ist ein Jakutenpferd. Doch mit Jakutenpferden wird ja nicht gearbeitet. Allerdings werden sie auch nicht gefüttert. Sie scharren, wie im Winter die Rentiere, mit den Hufen den Schnee beiseite und ziehen das trockene Vorjahresgras hervor. Der Mensch jedoch lebt. Vielleicht lebt er von Hoffnungen? Aber er hat ja keinerlei Hoffnungen. Wenn er kein Dummkopf ist, kann er nicht von Hoffnungen leben. Darum gibt es so viele Selbstmörder. Doch der Selbsterhaltungstrieb, das sich Klammern ans Leben, ein wirklich physisches Klammern, dem auch das Bewußtsein unterworfen ist, rettet ihn. Er lebt von demselben, was den Stein, den Baum, den Vogel, den Hund leben läßt. Doch er klammert sich fester ans Leben als sie. Und er ist widerstandsfähiger als jedes Tier.
    Über all solche Dinge dachte Platonow auch nach, als er mit einem Holzstamm auf der Schulter am Eingangstor stand und auf den erneuten Zählappell wartete. Das Brennholz war herbeigeschleppt, gestapelt, und die Leute drängten, eilig und fluchend, in die dunkle Blockhausbaracke.
    Als sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah Platonow, daß durchaus nicht alle Arbeiter zur Arbeit gingen. In der rechten hinteren Ecke saßen auf den oberen Pritschen, die einzige Lampe, eine Benzinfunzel ohne Glas, zu sich herangezogen, sieben oder acht Mann, in ihrer Mitte, die Beine auf tatarische Art gekreuzt und ein speckiges Kissen zwischen sich, zwei Kartenspieler. Die Funzel rauchte und flackerte, und das Licht machte die Schatten lang und ließ sie zucken.
    Platonow hockte sich auf den Pritschenrand. Es riß in den Schultern und Knien, seine Muskeln zitterten. Platonow war erst am Morgen nach »Dschanchara« gebracht worden, er hatte den ersten Tag gearbeitet. Freie Plätze auf den Pritschen gab es nicht.
    Wenn sich alle verteilt haben, dachte Platonow, lege ich mich hin. Er schlummerte ein.
    Das Spiel oben war zu Ende. Ein schwarzhaariger Mann mit Schnurrbärtchen und einem langen Nagel am kleinen Finger wälzte sich an den Rand der Pritsche.
    »He, ruft mal diesen Iwan Iwanowitsch«, sagte er.
    Ein Stoß in den Rücken weckte Platonow.
    »Du... Du wirst gerufen.«
    »Na, wo bleibt er, dieser Iwan Iwanowitsch?«, rief es von den oberen Pritschen.
    »Ich heiße nicht Iwan Iwanowitsch«, sagte Platonow und blinzelte.
    »Er kommt nicht, Fedetschka.«
    »Was heißt, kommt nicht?«
    Platonow wurde ins Licht geschubst.
    »Willst du leben?«, fragte ihn Fedja leise und ließ den kleinen Finger mit dem langen schmutzigen Nagel vor Platonows Augen kreisen.
    »Will ich«, sagte Platonow.
    Ein kräftiger Faustschlag ins Gesicht warf ihn zu Boden. Platonow stand auf und wischte sich das Blut mit dem Ärmel ab.
    »So antwortet man nicht«, erklärte Fedja zärtlich. »Hat man euch, Iwan Iwanowitsch, so zu antworten etwa im Institut beigebracht?«
    Platonow schwieg.
    »Geh, du Idiot«, sagte Fedja. »Geh und leg dich zum Kübel. Dort ist dein Platz. Und wenn du dich muckst, wirst du erdrosselt.«
    Das war keine leere Drohung. Zweimal schon hatte man vor Platonows Augen Leute mit dem Handtuch erdrosselt — irgendwelche Abrechnungen unter Dieben. Platonow legte sich auf die feuchten stinkenden Bretter.
    »Langweilig, Freunde«, sagte Fedja gähnend, »wenigstens könnte mir einer die Fersen kraulen...«
    » Maschka , Maschka, komm und kraul Fedetschka die Fersen.«
    Maschka tauchte im Lichtstreifen auf, ein hübscher blasser Junge, ein junger Dieb von vielleicht achtzehn.
    Er zog Fedetschka die abgetragenen gelben Halbschuhe von den Füßen, zog ihm vorsichtig die schmutzigen zerrissenen Socken aus und kraulte ihm lächelnd die Fersen. Fedja kicherte und zuckte vom Gekitzel.
    »Zieh ab«, sagte er plötzlich. »Du kannst nicht kraulen. Du verstehst das nicht.«
    »Aber, Fedetschka, ich...«
    »Zieh ab, sagt man dir. Es schabt, es kratzt. Keinerlei Zartgefühl.«
    Alle ringsum nickten teilnahmsvoll.
    »In ›Kossoj‹ hatte ich einen Jidden, der hat gekrault. Meine Freunde, der hat gekrault. Ein Ingenieur.«
    Und Fedja versank in Erinnerungen an den Jidden, der ihm die Fersen gekrault hat.
    »Fedja, he, Fedja, und den da, den Neuen... Willst du ihn nicht probieren?«
    »Hol ihn der Kuckuck«, sagte Fedja. »Können denn solche kraulen? Aber übrigens, weckt ihn doch.«
    Platonow wurde ins Licht

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