Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
überlaufen. Doch das half nicht für lange. Die, die unter den Pritschen lagen, erwiesen sich plötzlich als Besitzer der besten Plätze. Man mußte sich rüsten für die Orte der »fernen Lager«, und man scherzte düster, wie im Gefängnis üblich, nach der Folter durch Ausdampfen erwartet einen die Folter durch Ausfrieren.
Ein tatarischer Mullah, Untersuchungshäftling in dem berühmten Prozeß um die »Große Tatarei« , von dem wir viel früher erfuhren als an dem Tag, als die Zeitungen etwas andeuteten, ein kräftiger sechzigjähriger Sanguiniker mit mächtiger, von grauem Haar bedeckter Brust, mit einem lebendigen Blick aus dunklen runden Augen, rieb sich unaufhörlich den kahlen glänzenden Schädel mit einem feuchten Taschentuch ab und sagte:
»Daß sie mich nur nicht erschießen. Wenn sie mir zehn Jahre geben — Kleinigkeit. Die Spanne schreckt nur den, der vierzig Jahre zu werden gedenkt. Aber ich gedenke, achtzig zu werden.«
Der Mullah stieg nach dem Hofgang ohne Atemnot bis ins fünfte Stockwerk.
»Wenn sie mir mehr als zehn Jahre geben«, überlegte er weiter, »dann werde ich im Gefängnis wohl noch zwanzig Jahre leben. Im Lager«, der Mullah machte eine Pause, »an der frischen Luft — nur noch zehn.«
Ich mußte heute an den munteren und klugen Mullah denken, als ich die »Aufzeichnungen aus einem Totenhaus« wieder las. Der Mullah wußte, was die »frische Luft« bedeutet.
Morosow und Figner verbrachten in der Festung Schlüsselburg je zwanzig Jahre bei strengstem Gefängnisregime und kamen als durchaus arbeitsfähige Leute wieder frei. Wera Figner fand die Kraft zur weiteren aktiven Arbeit für die Revolution, anschließend schrieb sie zehnbändige Erinnerungen an die erlittenen Schrecken, und Nikolaj Morosow schrieb eine Reihe bekannter wissenschaftlicher Arbeiten und heiratete aus Liebe irgendeine Gymnasiastin.
Um einen gesunden jungen Mann, der seine Karriere in der Goldgrube an der frischen Winterluft beginnt, in einen
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zu verwandeln, braucht es im Lager zumindest zwanzig bis dreißig Tage bei sechzehnstündigem Arbeitstag, ohne Ruhetage, bei systematischem Hungern, zerrissener Kleidung und Unterbringung im löchrigen Planenzelt bei sechzig Grad Frost, mit Prügel von den Vorarbeitern, den Ältesten, die Ganoven sind, und den Begleitposten. Diese Zeitspannen sind vielfach überprüft. Von den Brigaden, die die Goldsaison eröffnen und die Namen ihrer Brigadiere tragen, bleibt am Ende der Saison kein einziger Mensch mehr übrig von denen, die die Saison eröffnet haben, mit Ausnahme des Brigadiers selbst, des Barackendienstes der Brigade und noch irgendeines der persönlichen Freunde des Brigadiers. Die restliche Besetzung der Brigade wechselt über den Sommer mehrere Male. Unaufhörlich wirft die Goldgrube ihre Produktionsabfälle in die Krankenhäuser, in die sogenannten Genesungskommandos, in die Invalidensiedlungen und in die Massengräber aus.
Die Goldsaison beginnt am fünfzehnten Mai und endet am fünfzehnten September — vier Monate. Von der Winterarbeit braucht man gar nicht zu reden. Zum Sommer werden die wichtigsten Bergbaubrigaden aus neuen Leuten zusammengestellt, die noch keinen hiesigen Winter hinter sich haben.
Verurteilte Arrestanten waren begierig darauf, vom Gefängnis ins Lager zu kommen. Dort gibt es Arbeit, gesunde Landluft, vorzeitige Entlassungen, die Erlaubnis zur Korrespondenz, Pakete von der Familie, Entlohnung in Geld. Der Mensch glaubt immer an das Beste. An der Türritze des heizbaren Güterwaggons, der uns in den Fernen Osten transportierte, drängelten sich Tag und Nacht die Etappen-Passagiere und atmeten berauscht die kühle, vom Duft der Feldblumen durchtränkte, durch die Fahrt des Zuges in Bewegung gebrachte stille Abendluft. Diese Luft war anders als die nach den vielen Monaten der Untersuchung verhaßte, stickige, nach Karbolsäure und menschlichem Schweiß riechende Luft der Gefängniszellen. In diesen Zellen ließ man die Erinnerungen an die geschmähte und zertrampelte Ehre zurück, Erinnerungen, die man loswerden wollte.
Aus seelischer Einfalt hielten die Menschen das Untersuchungsgefängnis, das ihr Leben so plötzlich veränderte, für das grausamste Erlebnis. Eben die Verhaftung war für sie die stärkste moralische Erschütterung. Jetzt, dem Gefängnis entkommen, wollten sie unbewußt an die Freiheit, eine wenn auch relative, so doch immerhin Freiheit glauben, an ein Leben ohne die verdammten Gitter, ohne erniedrigende und
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