Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
kann.
Man kann lügen — und leben.
Man kann Versprechen machen — und das Versprochene nicht halten und trotzdem leben.
Man kann das Geld seines Kameraden versaufen.
Man kann um Almosen bitten und leben! Betteln und leben!
Er entdeckt, daß ein Mensch, wenn er eine Gemeinheit begangen hat, nicht stirbt.
Er lernt das Faulenzen, das Betrügen, die Erbitterung gegen alle und alles. Er beschuldigt die ganze Welt und beweint das eigene Schicksal.
Er schätzt die eigenen Leiden allzu hoch und vergißt, daß jeder Mensch seinen Kummer hat. Das Verständnis für fremden Kummer hat er verlernt — er versteht ihn einfach nicht, will ihn nicht verstehen.
Skeptizismus — das ist noch gut, das ist noch das Beste am Vermächtnis des Lagers.
Er lernt die Menschen hassen.
Er hat Angst — er ist ein Feigling. Er hat Angst vor der Wiederholung seines Geschicks — hat Angst vor Denunziationen, hat Angst vor den Nachbarn, hat Angst vor allem, wovor ein Mensch keine Angst haben darf.
Er ist moralisch vernichtet. Seine Vorstellungen von Sittlichkeit haben sich verändert, und er selbst bemerkt es nicht.
Der Chef lernt im Lager die nahezu unkontrollierte Macht über die Häftlinge, lernt sich selbst fast als Gott zu betrachten, als den einzig befugten Repräsentanten der Macht, als Menschen höherer Rasse.
Der Begleitposten, in dessen Händen vielfach Menschenleben lagen und der viele Menschen erschossen hat, die die Grenze der verbotenen Zone überschritten — was wird er seiner Braut erzählen von seiner Arbeit im Hohen Norden? Wie er hungrige Greise, die nicht laufen konnten, mit dem Gewehrkolben geschlagen hat?
Ein junger Bauer, der in Haft kommt, sieht, daß in dieser Hölle nur die urki vergleichsweise gut leben, geachtet und gefürchtet von der allmächtigen Leitung. Sie haben immer anzuziehen und zu essen, unterstützen einander.
Der Bauer denkt nach. Allmählich kommt es ihm so vor, daß die Wahrheit des Lagerlebens auf der Seite der Ganoven liegt, daß er, wenn er ihnen nur folgt in seinem Verhalten, den Weg der realen Rettung seines Lebens einschlägt. Es gibt, das entdeckt er, Leute, die auch ganz unten leben können. Und der Bauer beginnt, die Ganoven in seinem Verhalten, in seinen Taten nachzuahmen. Er nickt zu jedem Wort der Ganoven, führt bereitwillig all ihre Aufträge aus, spricht von ihnen in Furcht und Verehrung. Eilig schmückt er seine Rede mit Gaunerwörtchen — diesen Gaunerwörtchen entging an der Kolyma niemand, ob männlichen oder weiblichen Geschlechts, ob Häftling oder Freiwilliger.
Diese Worte sind Gift, ein Toxin, das in die menschliche Seele dringt, und eben mit der Aneignung des Gaunerdialekts beginnt auch die Annäherung des
frajers
an die Ganovenwelt.
Der inhaftierte Intellektuelle wird vom Lager ausgelöscht. Alles, was ihm teuer war, ist in den Staub getreten, und in kürzester Zeit, die sich nach Wochen bemißt, fallen Zivilisation und Kultur vom Menschen ab.
Argumente im Streit sind Faust und Stock. Druckmittel sind der Gewehrkolben und eins aufs Maul.
Der Intellektuelle wird zum Feigling, und das eigene Hirn souffliert ihm die Rechtfertigung seiner Handlungen. Er kann sich selbst zu allem überreden, sich im Streit jeder Partei anschließen. In der Gaunerwelt sieht der Intellektuelle »Lebenslehrer« und Kämpfer für die »Rechte des Volks«.
Eine »Kopfnuß«, ein Hieb, macht den Intellektuellen zum ergebenen Diener irgendeines Senetschka oder Kostetschka.
Physische Nötigung wird zu moralischer Nötigung.
Der Intellektuelle ist für immer verschreckt. Sein Geist ist gebrochen. Diese Verschrecktheit und den gebrochenen Geist trägt er auch ins freie Leben.
Ingenieure, Geologen und Ärzte, die mit Verträgen mit Dalstroj an die Kolyma kommen, werden rasch demoralisiert: der schnelle Rubel, das Gesetz der Tajga, die Sklavenarbeit, die sich so leicht und günstig nutzen läßt, die Einengung der kulturellen Interessen — all das demoralisiert und zersetzt, nach langer Arbeit im Lager geht ein Mensch nicht zurück aufs Festland — dort ist er nichts wert, und er hat sich gewöhnt an das reiche, wohlversorgte Leben. All diese Demoralisierung nennt sich in der Literatur »der Ruf des Nordens«.
An dieser Zersetzung der menschlichen Seele ist wesentlich die Ganovenwelt schuld, die Gewohnheitsverbrecher, deren Geschmack und deren Gewohnheiten prägend sind für das gesamte Leben an der Kolyma.
1959
Die Juristenverschwörung
In Schmeljows Brigade wurde die menschliche
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