Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
solchen »Einladungen« aß der vorausblickende Andrejew immer ohne Brot. Auch diesmal steckte er das Brot in die Tasche. Der Professor aber brach vom Brot ab, verschlang die Suppe und kaute, und große schmutzige Schweißtropfen traten auf seinem geschorenen grauen Kopf hervor.
»Da habt ihr noch jeder einen Rubel«, sagte der Koch. »Brot habe ich heute keins.«
Das war eine vorzügliche Bezahlung.
Im Durchgangslager gab es einen Laden, ein Lädchen, wo die Freien Brot kaufen konnten. Andrejew sagte das dem Professor.
»Ja, ja, Sie haben recht«, sagte der Professor. »Aber ich habe gesehen: dort verkaufen sie süßen Kwas. Oder ist es Limonade? Ich möchte so gern Limonade, überhaupt etwas Süßes.«
»Das ist Ihre Sache, Professor. Nur würde ich an Ihrer Stelle lieber Brot kaufen.«
»Ja, ja, Sie haben recht«, wiederholte der Professor. »Aber ich möchte so gern Süßes. Sie bekommen etwas ab.«
Doch Andrejew verzichtete entschieden auf den Kwas.
Endlich hatte Andrejew sich eine Einzelarbeit verschafft — er wischte die Böden im Kontor der Wirtschaftsabteilung des Durchgangslagers. Jeden Abend holte ihn der Barackendienst ab, dessen Pflicht es auch war, das Kontor sauberzuhalten. Das waren zwei winzige Zimmerchen, vollgestellt mit Tischen, jedes etwa vier Quadratmeter groß. Die Böden waren gestrichen. Das Putzen war eine läppische Arbeit für zehn Minuten, und Andrejew verstand nicht gleich, warum der Barackendienst für solches Reinemachen einen Arbeiter anheuert. Denn sogar das Wischwasser trug der Barackendienst selbst durchs ganze Lager, saubere Lappen lagen auch immer schon bereit. Und die Bezahlung war großzügig — Machorka, Suppe und Grütze, Brot und Zucker. Der Barakkendienst versprach sogar, Andrejew ein leichtes Jackett zu geben, doch er kam nicht dazu.
Offensichtlich schien es dem Barackendienst anstößig, die Böden selbst zu wischen — und sei es nur fünf Minuten am Tag, wenn er in der Lage war, einen fleißigen Arbeiter anzuheuern. Diese Eigenschaft des russischen Menschen hatte Andrejew auch im Bergwerk beobachtet. Da gibt der Chef dem Barackendienst für das Reinemachen in der Baracke eine Handvoll Machorka: die eine Hälfte der Machorka streut der Barackendienst in seinen Tabaksbeutel, und für die andere Hälfte heuert er den Barackendienst aus der Baracke der Achtundfünfziger an. Der seinerseits halbiert die Machorka ein weiteres Mal und heuert für zwei Machorka-Papirossy einen Arbeiter aus seiner Baracke an. Und dieser Arbeiter nun, nach zwölf, vierzehn Stunden Schichtarbeit, wischt in der Nacht für diese zwei Papirossy die Böden. Und hält es noch für ein Glück — denn für den Tabak tauscht er Brot ein.
Währungsfragen sind der komplexeste Theoriebereich der Ökonomie. Auch im Lager sind Währungsfragen komplex, die Maßeinheiten merkwürdig: Tee, Tabak, Brot — das sind kursabhängige Werte.
Der Barackendienst der Wirtschaftsabteilung zahlte Andrejew manchmal mit Gutscheinen für die Küche. Das waren Kartonstücke mit Stempel, wie Marken — zehn Mittagessen, fünf Hauptgerichte u.ä. So gab der Barackendienst Andrejew eine Marke für zwanzig Portionen Grütze, und diese zwanzig Portionen bedeckten nicht einmal den Boden des Blechschüsselchens.
Andrejew sah, wie die Ganoven anstelle der Marken markenartig gefaltete hellorange Dreißigrubelscheine durchs Fensterchen reichten. Das funktionierte einwandfrei. Das Schüsselchen füllt sich mit Grütze und springt als Antwort auf die »Marke« aus dem Fensterchen.
Im Durchgangslager blieben immer weniger Menschen. Schließlich kam der Tag, wo nach Abfahrt des letzten Lastwagens auf dem Hof nur etwa drei Dutzend Leute standen.
Diesmal durften sie nicht in die Baracke, sondern mußten antreten und wurden durchs ganze Lager geführt.
»Sie werden uns doch nicht zur Erschießung führen«, sagte der riesige großhändige einäugige Mensch, der neben Andrejew ging.
Genau das – doch nicht zur Erschießung – hatte auch Andrejew gedacht. Alle wurden zum Arbeitsanweiser in die Registratur geführt.
»Wir werden Fingerabdrücke von euch nehmen«, sagte der Arbeitsanweiser und trat auf die Freitreppe hinaus.
»Na, wenn’s die Finger sein sollen, geht’s auch ohne Finger«, sagte fröhlich der Einäugige. »Ich heiße Filippowskij Georgij Adamowitsch.«
»Und du?«
»Andrejew Pawel Iwanowitsch.«
Der Arbeitsanweiser hatte die Lagerakten gefunden.
»Euch suchen wir schon lange«, sagte er gutmütig.
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